Die Zerbrochene Kette - 6
denn sonst würden Späterkommende dazu verurteilt, draußen in der Kälte zu sterben. Sogar Blutfehden waren in den Hütten aufgehoben; Magda wußte, daß das auch bei Waldbränden so gehalten wurde. Die Männer hatten ihr kurzes Haar und ihre Amazonenkleidung mit einem kurzen Blick gestreift, ein paar höfliche Worte gesprochen und sie danach völlig ignoriert.
Seitdem war ihr keine Menschenseele mehr begegnet; die vorgeschrittene Jahreszeit hatte die meisten Reisenden nach Hause an ihre eigene Feuerstelle geschickt. Die Wolken hatten sich nun aufgelöst, und die große rote Sonne Darkovers, die irgendein Poet in der Terranischen Zone die Blutige Sonne genannt hatte, erhob sich zwischen den Gipfeln und überflutete die hohen Schneefelder mit flammendem Rot und Gold. Als Magda in den Paß eindrang, badete ein Meer von Flammen die hohen Schneekappen in ihrer hehren Einsamkeit, ein Anblick, der Magda entzückte und erregte.
Doch das Morgenrot verblaßte, und dann war nichts mehr da als der einsame, stille Pfad. Schweigen und zuviel Zeit zum Denken, sich immer wieder und wieder zu fragen: Warum tue ich das? Liebe ich den Schuft immer noch?
Geht es mir vielleicht gegen die Ehre, daß ein Mann, der – wenn auch nur kurz – mein Bett geteilt hat, im Stich gelassen wird und umkommt, ohne daß jemand versucht, ihm zu helfen?
Oder haben wir als Kinder in Caer Dann den Kodex, die Ethik der Darkovaner übernommen? Loyalität innerhalb der Familie, Verpflichtung der Sippe gegenüber… Für das Imperium ist Peter nur ein ersetzbarer Angestellter. Für mich, für jeden Darkovaner ist das eine empörende Vorstellung, eine Obszönität.
Sie hatte den Paß hinter sich, ehe die Sonne länger als eine Stunde am Himmel emporgestiegen war. Ihre Ohren schmerzten von der Höhe, doch nun ging es ins nächste Tal hinunter. Mittags hielt sie Rast in einem kleinen Bergdorf und genehmigte sich in einer Garküche einen Becher heiße Suppe und Pfannkuchen. Ein paar neugie rige Kinder versammelten sich, und Magda schloß aus ihrer Aufregung, daß sie sehr wenige Fremde zu sehen bekamen. Sie schenkte ihnen Süßigkeiten aus ihren Satteltaschen, ließ ihre Tiere sich vor dem Anstieg zum nächsten Paß ausruhen und genoß das erste frisch gekochte Essen, seit sie Thendara verlassen hatte.
Die Kinder waren neugierig wie die Katzen. Sie fragten, woher sie komme, und als sie antwortete: »Aus Thendara«, staunten sie sie an, als habe sie »vom Ende der Welt« gesagt. Nun ja, für diese Kinder, die nie aus ihren Bergen herauskamen, war Thendara das Ende der Welt. Sie erkundigten sich nach dem Zweck ihrer Reise. Magda lächelte und sagte, das sei ein Geheimnis ihrer Auftraggeber. Lady Rohana hatte ihr die Erlaubnis gegeben, ihren Namen zu verwenden. »Ich werde dir auch einen Geleitbrief mit meinem Siegel geben«, hatte sie gesagt. »Dort im Vorgebirge gibt es viele Leute, die Gabriel und mir verpflichtet sind.« Sie hatte ihr geraten, einen Kontakt mit echten Amazonen tunlichst zu vermeiden, doch wenn ein Zufall sie zusammenführe, werde man sie nach ihrem Gildenhaus und dem Namen der Frau, die ihr den Eid abgenommen habe, fragen. »In dem Fall nennst du Kindra n’ha Mhari; sie ist seit drei Jahren tot…« Ein Ausdruck der Trauer huschte über Rohanas Gesicht. »Sie war meine liebe Freundin, und ich glaube nicht, daß sie es uns übelnehmen würde. Aber wenn die Götter gnädig sind, kommst du nach Sain Scarp und hoffentlich auch wieder zurück, ohne ihren Namen benutzen zu müssen.«
Magda war fertig mit Essen und tränkte ihre Tiere am Dorftrog, als zwei Männer auf den Platz ritten. Nach dem Schnitt ihrer Mäntel stammten sie aus den fernen Hellers; sie trugen Bärte und hatten bösartig aussehende Messer im Gürtel stecken. Die Blicke, mit denen sie Magda und, wie sie meinte, ihre vollen Satteltaschen betrachteten, bereiteten ihr Unbehagen. Sie brach das Tränken ab, stieg hastig in den Sattel und machte sich auf den Weg aus der Stadt. Hoffentlich hielten die Männer ausgiebig Rast und sie sah sie nie wieder.
Lange Zeit führte der Weg aufwärts zwischen dichtbewaldeten Hängen dahin. Eis und Schnee schmolzen in der Mittagssonne, und der Boden wurde matschig. Magda ließ ihr Pferd den Weg allein finden, und wenn der Pfad zu steil wurde, stieg sie ab und führte es. An einer Biegung, wo der Baumbestand in schwindelerregender Höhe lichter wurde, hielt sie an und sah auf die dünne Linie des Wegs weit unten zurück. Zu ihrem Schrecken
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