Die Zerbrochene Kette - 6
erkannte sie zwei Männer, die genauso aussahen wie die auf dem Marktplatz. Folgten sie ihr?
Sei nicht paranoid. Dies ist die einzige Straße nach Nordwesten in die Hellers. Bin ich die einzige, die ihr Weg dorthin führt? Sie trat an den Rand, wobei sie achtgab, nicht auf dem mit Schneematsch bedeckten Fels auszurutschen, und sah sich die beiden Männer genauer an. Konnte sie überhaupt sicher sein, daß es dieselben waren? Ja, denn der eine ritt einen Rotschimmel, und Rotschimmel waren in keiner Gegend häufig. Zwei an einem Tag in den Bergen zu sehen war äußerst unwahrscheinlich. Wie um ihren letzten Zweifel zu vertreiben, richtete der eine den Blick nach oben, sah offenbar Magdas Silhouette am Klippenrand, beugte sich zu seinem Gefährten und sprach drängend auf ihn ein. Sie zogen die Zügel an und lenkten an die Felswand, wo sie von oben nicht sichtbar waren.
Das Gefühl der Angst, das Magda packte, war körperlich wie ein Krampf in den Beinmuskeln. Sie eilte zu ihrem Pferd zurück und befahl sich streng, Ruhe zu bewahren. Ich bin bewaffnet. Ich bin seit meinem sechzehnten Lebensjahr, als ich mich entschloß, dem Nachrichtendienst beizutreten, im Kampf trainiert. Auf jeder anderen Welt, das war ihr klar, wäre es für eine Agentin selbstverständlich gewesen, daß sie der Begegnung mit den beiden Männern gleichmütig entgegensah. Hier auf Darkover war sie von den herrschenden Bräuchen behütet worden.
Wenn es zu einem Kampf kam – Magda legte kurz die Hand auf ihr Messer, um sich Mut zu machen –, war es besser, sie hatte den Paß schon erreicht. Dort konnte sie sich leichter verteidigen als auf dem Hang. Aber mußte es zu einem Kampf kommen? Terranische Agenten lernten, einer solchen Konfrontation wenn möglich auszuweichen. Und sie wollte wetten, daß nicht einmal die Freien Amazonen herumliefen und nach Messerstechereien haschten.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie sich einfach nicht dazu zwingen konnte, sich den Männern zu stellen. Sie befahl sich, zu bleiben und es durchzudenken, aber noch während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, führte sie ihr Pferd schon den Hang hinunter, weg von dem Weg, schneller, als ein guter Reiter es durfte. (Aus ihrer Kindheit kannte sie ein Sprichwort der Berge: »Laß auf einem steilen Weg dein Pferd die Geschwindigkeit bestimmen.«) Doch sie hastete weiter abwärts. Steinchen lösten sich unter den Hufen des Pferdes und polterten den Berg hinunter.
Es dauerte nicht lange, bis Magda merkte, daß es so nicht ging. Wenn eins ihrer Tiere fiel und sich ein Bein brach, mußte sie zu Fuß weitergehen. Sie hielt das Pferd an und klopfte, um Entschuldigung bittend, seine wogenden Flanken. Was ist los mit mir, warum bin ich auf diese Weise weggelaufen? Kein Mensch war auf dem Weg zum Paß hinter ihr zu sehen. Vielleicht sind sie mir gar nicht gefolgt… Aber sie fühlte das vage Unbehagen, die »Ahnung«, der sie in vielen Jahren erfolgreicher Agententätigkeit zu vertrauen gelernt hatte. Diese innere Stimme riet ihr laut und deutlich: Lauf, versteck dich, verschwinde. Die Frau, die sie auf einer weit entfernten anderen Welt ausgebildet hatte, pflegte zu sagen: »Jeder gute Undercover-Agent hat ein bißchen parapsychische Begabung, sonst würde er im Dienst nicht lange am Leben bleiben.«
Und jetzt? Sie konnte den Männern nicht davonlaufen, mit ihrem Gepäck und ihrem Packtier. Früher oder später würden sie sie einholen, und dann kam es zum Kampf.
Magda betrachtete den Boden, der bedeckt mit schmelzendem Schnee und Schlamm war, eine amorphe, zertrampelte, bräunliche Masse. Mein Glück. In Neuschnee sähen sie meine Spuren… und die Stelle, wo ich den Weg verlassen habe, was schlimmer wäre … In dem ablaufenden, schlammigen Wasser und dem Schneematsch verschwanden jedoch alle Spuren ebenso schnell, wie sie entstanden. Magda führte die Tiere durch eine schmale Lücke in den Bäumen und band sie in einem dichten, immergrünen Gebüsch an, wo sie gut verborgen waren.
Dann kehrte sie auf den Weg zurück, verwischte mit den Händen die Stelle, wo sie den Hang hinuntergeschlittert war, und versteckte sich zwischen Bäumen und Unterholz an einem Punkt, der eine gute Aussicht bot. Nervös auf einem Stück Trockenobst kauend, wartete sie darauf, ob ihr Trick Erfolg haben werde.
Es dauerte fast eine Stunde, bis die Reiter, die sie gesehen hatte, sich näherten. Sie ließen ihre Tiere so schnell laufen, wie es auf dem glitschigen Pfad eben möglich war. Keiner
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