Die Zerbrochene Kette - 6
»Tu, was ich dir sage.«
Als Magda fertig war, schlief Jaelle, oder sie hatte erneut das Bewußtsein verloren. Und schlafend oder bewußtlos blieb sie den ganzen Tag. Magda kochte sich etwas Suppe aus getrocknetem Fleisch und versuchte, Jaelle zu wecken, um ihr etwas davon einzuflößen. Jaelle stöhnte und murmelte nur und entzog sich ihren Händen, und Magda sah, daß sie fieberte. Einmal wachte sie auf und bat ganz deutlich um Wasser, aber als Magda es brachte, war sie nicht mehr ansprechbar und wollte nicht schlucken.
Hat sie Verletzungen, die ich nicht sehe? Oder war das Messer des Räubers doch vergiftet? Magda kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Ich will nicht, daß sie stirbt! Ich will nicht!
Gegen Abend war Jaelles Haut glühend heiß, und Magda konnte sie auch nicht für einen Augenblick wachbekommen. Jaelle phantasierte und warf sich umher. Einmal zerrte sie mit ihrer freien Hand an dem Verband um ihr Gesicht. Magda zog die Hand weg, doch ein paar Minuten später fing Jaelle von neuem an zu zupfen. In dem Gedanken, daß die Wunde schlimmer werden könnte, wenn es Jaelle gelang, die Bandage zu lockern, nahm Magda eine Mullbinde und band Jaelle die Hände an den Seiten fest. Sie war nicht darauf vorbereitet, daß Jaelle in wildem Entsetzen losschrie.
»O nein, nein, nein, nein… legt meine Hände nicht in Ketten – Mutter, Mutter… laß sie nicht… hilf mir… o nein, nein!« Und dann wieder die dünnen, ohrenzerreißenden Schreie. Magda hatte noch nie solch Entsetzen erlebt. Sie ertrug es nicht. Schnell schnitt sie die Binden durch und hob erst die eine, dann die andere Hand Jaelles, um ihr zu zeigen, daß sie frei waren. Irgendwie durchdrang es Jaelles Delirium. Sie hörte auf zu schreien und lag still. Nach etwa einer Stunde kehrte ihre Hand an den Gesichtsverband zurück. Auf keinen Fall wollte Magda wiederholen, was Jaelle so erschreckt hatte. Statt dessen nahm sie die Hände der bewußtlosen Frau fest in ihre eigenen und sagte ruhig: »Das darfst du nicht tun. Lieg still, sonst schadest du dir. Ich werde dir die Hände nicht noch einmal festbinden, aber du mußt stilliegen.« Das sagte sie mehrmals in verschiedenen Variationen.
Jaelle öffnete die Augen, erkannte Magda jedoch nicht. Sie murmelte: »Kindra« und später »Mutter« und machte keinen Versuch, Magda ihre Hände zu entziehen. Einmal sagte sie ins Leere: »Es hat weh getan. Aber ich habe nicht geweint.«
Fast die ganze Nacht saß Magda neben Jaelle, horchte auf ihre Fieberphantasien, hielt ihre Hände fest, wenn sie an dem Verband zerren wollte. Einmal versuchte Jaelle, in dem Wahn, sie werde anderswo benötigt – das entnahm Magda ihrem Toben –, aus dem Bett zu klettern. Magda hatte nichts, was sie ihr gegen das Fieber geben konnte. In Jaelles Satteltaschen befanden sich einige Medikamente, aber Magda hatte keine Ahnung, was es war und wie man es anwendete. Sie wusch sie mehrmals mit dem eisigen Wasser aus dem Brunnen und versuchte vergeblich, ihr zu trinken zu geben. Jaelle wich vor ihr zurück und wollte nicht schlucken. Gegen Morgen beruhigte sie sich. Magda wußte nicht, ob sie schlief oder im Koma lag und sterben würde. So oder so konnte sie nichts tun. Sie legte sich neben die bewußtlose Frau und schloß die Augen, um sich einen Moment auszuruhen. Plötzlich war die Hütte voll von grauem Licht. Jaelle lag mit offenen Augen da und sah sie an.
»Wie fühlst du dich, Jaelle?«
»Höllisch«, antwortete sie. »Ist etwas Wasser oder Tee oder sonstwas da? Mein Mund ist nicht mehr so trocken gewesen, seit ich Shainsa verlassen habe.«
Magda brachte ihr Tee. Jaelle stürzte ihn durstig hinunter und bat um mehr. »Bist du die ganze Nacht bei mir geblieben?«
»Bis du einschliefst – ich hatte Angst, du würdest deinen Verband abreißen. Versucht hast du es.«
»Habe ich phantasiert?« Als Magda nickte, sagte Jaelle mit schiefem Grinsen: »Das erklärt es. Ich träumte, ich sei wieder in den Trockenstädten, und Jalak – nun, es war fürchterlicher Unsinn, aber ich bin selten so froh gewesen, aufzuwachen.« Vorsichtig betastete sie den Verband.
»Du wirst eine schreckliche Narbe zurückbehalten, fürchte ich.«
»Es gibt Frauen im Gildenhaus, die der Meinung sind, ihre Narben bewiesen ihre Tüchtigkeit«, berichtete Jaelle. »Aber ich bin schließlich keine Kämpferin.« Darüber mußte Magda lachen. »Ich halte dich sogar für eine gute.«
»Ich meine, ich bin keine professionelle Kämpferin. Ich verdinge mich nicht als
Weitere Kostenlose Bücher