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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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Ich dachte an den Traum zurück, in dem sie mir befohlen hatte zu fliegen. In dem ich stattdessen gestorben war. Ich dachte an sie, an ihr konzentriertes Lächeln; es war nach Weihnachten gewesen, und die Tage waren ruhig und gelassen verlaufen, als wir die Flügelzeichnungen angefertigt hatten. Ich erinnerte mich an den Schein des Kamins und das Licht der Glühlampe. Ich erinnerte mich an die Studien, die wir im Sommer und Herbst am Flug der Vögel unternommen hatten, auf den kargen Feldern von Septfontaines. Ich erinnerte mich an die Rebhühner und Enten, deren Flügel und Federkleid wir auf dem Landgut meiner Eltern untersucht hatten, nachdem mein Vater und mein Bruder sie geschossen hatten. All das hatte sich zusammengefügt – zu diesem einen Moment.
    Als ich einige Meter gefallen war wie ein Stein, breitete ich die Flügel aus – mit einer Armbewegung fächerte ich die einzelnen Glieder auf, die Scharniere rasteten ein, und der Wind fing mich auf. Er fuhr unter meine Flügel,und dann trug er mich, so wie er mich getragen hatte, als wir den Sprung nur aus zehn Metern Höhe gewagt hatten. Ich wusste nicht, wo Eiken war, ich wusste nicht, wo die Luftschiffe waren – ich wusste nur, wo untenwar, denn dorthin bewegte sich meine Konstruktion, langsamer nun, aber stetig. Ich verlagerte mein Gewicht. Es ging mit den leichteren Schwingen wesentlich einfacher, zudem hielten die Gurte und Stangen die Flügel fest auf meinem Rücken und ließen mich nicht mehr hilflos darunter baumeln.
    Ynge jauchzte in meiner Tasche. „Fliegen wir? Fliegen wir?“
    „Wir … wir fliegen! Wir sind … so hoch!“ Durch die dahinfegenden Wolken- und Rauchfetzen machte ich nun die Küste aus, die Maschinen, die Schneisen, das Menschenwerk. Vom Meer kam eine Bö heran, ich erwischte sie mit der ganzen Fläche meiner Flügel und schraubte mich daran in die Höhe – ich lachte und mein Herz setzte kurz aus, als ich sodann über das graue Eismeer geschleudert wurde. Eiken war nun unter mir, und er trudelte ein wenig, mit einer Hand zerrte er an einem Scharnier, das offenbar nicht richtig eingerastet war. Falls er etwas rief, wurden seine Worte zu schnell vom Wind davongetragen.
    Eine weitere Bö ließ ihn hilflos schlenkern, dann jedoch hatte er das Gerät unter Kontrolle, er sandte mir ein Signal mit aufgerichtetem Daumen, und zusammen glitten wir vollends hinaus aus dem Rauch des Festlands in die arktische Sommerkälte.
    „Æsta, wo bist du?“, fragte ich stumm und ließ suchend meinen Blick schweifen. Ich brauchte nicht lange, um es zu entdecken, und hatten Aufregung, kindliche Freude und Todesangst die äußere Kälte zu vertreiben gewusst, so klammerte sich nun eine eisige Faust um mein Herz.
    Es lag ein wenig südöstlich von der Stelle, an der das gefrorene Land zum Wohle Europas aufgerissen und geplündert wurde, und Eiken schaffte es sofort, den Kurs zu wechseln und es anzusteuern, während ich ein wenig mit Wind, Thermik und Gleiterflügeln kämpfte. Ich vermutete, dass Eiken nicht unbewandert in der Kunst des Segelns war, und so nutzte er den nun schrägen Wind gekonnt aus. Ich trieb ein Stück ab, bevor ich die Flügel so richten konnte, dass auch ich Æsta ansteuerte.
    Da lag es wieder, wie ich es in Erinnerung behalten hatte – wenn es möglich war, in noch dickerem Rauch, mit noch höheren Schornsteinen, mit Maschinen, die noch lauter grollten und wummerten. Æsta, mit seinem schwarzen Herz.
    Der Eisberg jedoch, auf dem die Fahne leuchtete, erschien mir kleiner – die emsigen Arbeiten, die Hitze der Öfen und Fabriken schienen an ihm zu zehren.
    „Eiken!“, brüllte ich, und der Wind riss mir die Worte von den rauen, erstarrten Lippen. „Einmal herum! Vom Hafen aus sehen sie uns!“
    Unsere Flügel waren riesig, und mochte es auch unsere Hoffnung sein, dem Ætherlot zu entgehen, so waren wir nicht unsichtbar für menschliche Augen. Die Nacht wollte nicht hereinbrechen – die Sonne hatte sich dem Horizont genähert, doch sie streifte faul daran entlang –, der Rauch der Schlote zog von uns weg und würde uns entblößen, wenn wir nicht einen Viertelkreis in sicherem Abstand zogen.
    Eiken jedoch hörte mich nicht, und ein Blickkontakt mit ihm war nicht möglich – ich konnte tatsächlich nicht mehr von ihm sehen als seine Füße. Ich versuchte, mit gutem Beispiel voranzugehen, und selbst zu einem Viertelkreis anzusetzen, doch die Winde auf offener See waren tückisch, sie warfen die Flügel hin und her, das Gestänge

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