Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
Vom Netzwerk:
hervor – See und weißgefrorene Küste erstreckten sich bis in Gottes Endlosigkeit. Ich atmete beißend kalte Luft ein, die mir die Tränen in die Augen trieb und diese gleich darauf gefrieren ließ.
    „Zurzeit geht es nicht. Siehst du das, mein Sohn?“
    „Das ist …“ Ich blickte in die mir gewiesene Richtung. Dort ragte der mit Bullaugen gespickte gewaltige Backsteinturm des Sankt-Franziskus-Stifts auf. „Das ist das Spital.“
    „Ja. Es ist das höchste Gebäude Æstas, weil man in die Höhe statt in die Breite gebaut hat. Und Kranke und Verwirrte gibt es immer, gerade in einer Stadt wie dieser. Dort installieren sie nun eine neue Erfindung, etwas, das für die Stadt sehr wertvoll sein wird.“
    „Deshalb die vielen Schutzmänner?“
    „Ja, in der Tat. Und daher ist der Zugang zum Friedhof derzeit nur für die Leichenzüge offen – privater Besuch ist leider nicht möglich. Wird es eigentlich einen Leichenschmaus geben, mein Sohn?“
    „Was ist es für ein Gerät?“, fragte ich und blickte hinüber – das Ziegeldach des Turms war abgedeckt worden, und Arbeiter waren darin zugange.
    „Ein Funkmess. Die Erfindung des Jahrhunderts nennen sie es.“
    „Wer hat es erfunden?“
    „Ein Inder aus Kalkutta! Ist das zu glauben? Es ist uns nicht gelungen, ihnen die heilige Schrift verständlich zu machen, aber all diese wissenschaftlichen Theorien und … Formeln, die verstehen sie, als wäre es ihre Muttersprache.“
    „Wissenschaft trifft eben überall zu, egal, welchem Gott man anhängt. Religion hat sich viel zu oft als unzutreffend erwiesen“, gab ich zu bedenken und erntete einen rügenden Blick. „Nun müssen Sie mir vergeben, Pater, aber ich richte keinen Leichenschmaus aus. Ich muss zurück an meine Arbeit.“
    „Tja, bedauerlich. Ich bin in der Rosencreutz-Gemeinde anzutreffen, wenn du jemanden zum Reden brauchst, mein Sohn.“
    Er war einer von der jungen und mageren Sorte, und ich fragte mich, ob er heimlich hoffte, ich würde zum Beichten etwas zu Essen mitbringen. Ich grüßte noch einmal freundlich und stieg dann die eisglatten Stufen hinab, bis ich an der Basis des schwindelerregend hohen Backsteinturms angekommen war.
    „Ein Funkmess, ja?“, rief ich – aus unerfindlichem Grunde geradezu vergnügt – einer schwarzgekleideten Krankenschwester mit spitzer Haube zu, die am hohen Drahtzaun darauf wartete, eingelassen zu werden. Sie wandte sich zu mir um: „Ætherlot ist das richtige Wort.“
    Vermutlich ein Streit ums Patentrecht, aber tatsächlich, Ætherlot hatte den besseren Klang.
    Hinter mir durchschnitten weitere Schritte die erwartungsvolle Stille um das Spital herum. Es waren der bullige Bestatter, in pietätvolles Schwarz gekleidet, und eine ganze Horde Wesen, die zu alt für Knaben und zu jung für Männer waren. Sie trugen schwere Eimer, die an Stangen wie mit einem Joch über ihre Schultern gelegt waren.
    Ohne Zweifel wurde das Grab, auf das jeder symbolisch eine Kelle Wasser geschüttet hatte, nun verschlossen.
    Ich eilte noch einmal zur Stiege.
    „Verzeihen Sie, mein Herr. Wie lange dauert es, bis das Grab zugefroren ist?“
    „Vollständig durchgefroren? Mehrere Tage“, grunzte der Bestatter und schob mich unhöflich beiseite.
    „Und die Ruhe der Toten wird dann erst wieder gestört, wenn geweihter Boden in greifbarer Nähe ist sozusagen?“
    „Sozusagen.“
    Ich ließ einen prüfenden Blick über die jungen Wesen schweifen. Sie schwitzten trotz der Kälte, die meisten blickten gelangweilt drein. Ich bildete mir jedoch ein, dass einer von ihnen mich stirnrunzelnd anblickte.
    War er derjenige, der ihm half, die Leichen aus dem Eis zu schlagen? Der Bestatter trieb sie zur Eile an, obwohl ihnen das Grab sicherlich nicht weglaufen würde.
    Er hatte Angst vor meinen Fragen. Ich warf ihm noch einen durchdringenden Blick zu. „Dankeschön. Ich wünsche einen schönen Tag.“
    Ein Wort, das keines war, wurde zum Abschied gemurmelt, und die kleine Prozession setzte sich fort.
    „Ach, Ynge. Ich bin ein völliger Versager. Ich werde es niemals herausbekommen. Denke ich nun schon von jedem Übles?“
    Meine Augen folgten dem Trupp junger Männer, und Ynge schwieg beleidigt.
    „Wenn du denkst, du könntest es so viel besser, warum gibst du mir dann nicht wenigstens einen Rat?“, fuhr ich patzig fort und erntete den erstaunten Blick einer Passantin. Ich lächelte und grüßte mit dem Finger an der Mütze, die ich in dieser Hundekälte anstelle von Æmelies Zylinder

Weitere Kostenlose Bücher