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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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flüsterte Ynge, doch weiter konnte ich beim besten Willen nicht. „Jetzt folge ihm doch!“
    Er verschwand in der Dunkelheit, ich hörte seine Schritte, die schwerfälligen Tritte des Apparates und das Klacken des Spazierstocks auf einem metallenen Aufgang, der die Flanken des Eisberges zu erklimmen begann.
    „Sie gehen zur Gondelbahn“, drängte Ynge.
    Die Zahnradbahn zog sich vom Hafen, der tiefsten Stelle der Insel, bis hinauf zum letzten Gebäude unterhalb der Eisbergspitze – dem Sitz der Verwaltung. Die Fahrt kostete zehn Pfennig und bislang hatte ich aus Sparsamkeit stets die Stiegen und steilen Sträßchen benutzt, um in die höheren Bezirke der Stadt zu gelangen. „Steig mit ein!“, drängte Ynge.
    „Klar, ich steige zu einem Irren, der gerade zwei Menschen umgebracht und ins Wasser geworfen hat, und einer wandelnden Leiche, die sicher auch nicht mehr Skrupel haben wird, einem verarmten Maler und seiner törichten Puppe das Lebenslicht auszupusten, in die Gondel. Ich steige ein und sage … ich sage: Servus, die Herren! , und das werden meine letzten Worte sein!“
    Ich hatte mich richtig in Rage geredet, und auch Æmelies Einwand, mit dieser Zaghaftigkeit würde ich niemals ihre Leiche finden, konnte mich nicht umstimmen.

Leichen im Eis

    Aquarell
    E s war sicherlich harte Arbeit gewesen, die Spalte ins Eis zu hacken, in die die winzige knochige Leiche des Opiumsüchtigen hineingelegt wurde. Er war arm gewesen, daher war seine Leiche nur in ein schäbiges, trauriges Leintuch gewickelt worden – an anderen Stellen im Eis konnte ich jedoch auch Särge erkennen, die den Toten eine letzte Heimstatt gaben, welche ein wenig mehr Geld im Säckel gehabt hatten.
    Die Stimmung von Friedhöfen ist meiner Muse oft zuträglich, das konnte ich bereits erfahren. Efeuüberwucherte Grabsteine, verwitterte Statuen, die leise Anwesenheit der Endlichkeit aller lebenden Dinge.
    Auch dieser Friedhof faszinierte mich und rührte mich an, obgleich er weder mit Pflanzen noch mit Grabmälern aufwartete – eine kleine Tafel wurde den Toten mit ins Grab gegeben, um sie später zu identifizieren. In die Spalte, in die sie gelegt wurden, wurde Wasser gegossen, und dann musste lediglich abgewartet werden, bis der Untergrund wieder gefroren war. Ich wünschte mir, das Wasser würde ohne Sprünge, Kristalle und Blasen gefrieren, würde wie ein Fenster hinab zu den Toten sein, doch den Gefallen tat es mir leider nicht. So waren es lediglich verschwommene Kästen und Bündel, die ich unter meinen Füßen erkennen konnte.
    Ein gnostischer Priester sprach einen Wortgottesdienst – die Bibliker, so hatte ich bereits vernommen, hielten keine Messen für die Eisbestattung ab. Sie waren ja in allem strenger als ihre gnostischen Brüder und verweigerten den im Eis zur vorletzten Ruhe gebetteten Toten lieber den Segen unseres Herrn.
    Ich betete murmelnd mit, wünschend, ich könne auch einem Gottesdienst zu Æmelies Beerdigung beiwohnen. Könnte ihren Körper zu Grabe tragen und endlich all diesen Schmerz und diese Leere in mir zulassen. Könnte mich aufs Eis werfen und hinabblicken auf ihren zarten, eingefrorenen Leib. Ich weinte hemmungslos um den Opiumtoten, und das halbe Dutzend derer, die an Leichenzug und Begräbnis teilnahmen, blickte verwundert in meine Richtung.
    Auf dem Rückweg trat der Pfarrer an mich heran.
    „Mein Sohn“, begann er milde, und ich sah zu ihm auf. „Kanntest du den Toten gut?“
    „Wir standen uns sehr nah“, sagte ich und dachte an Æmelie. „Sie … er war ein wunderbarer Mensch, was nur die wenigsten wussten. Wäre er nicht so früh abberufen worden, dann hätte er noch Großes vollbracht!“
    „Er hat sein Unheil heraufbeschworen“, erklärte der Pater voll Sanftmut.
    „Ja, das ist wahr. Man hätte es vorher wissen können. Das Pflaster, auf das er sich begeben hat, war viel zu gefährlich.“
    „Gott sieht auf dich hinab, mein Sohn, und weiß, dass du es besser machen wirst als dein Freund.“
    „Wer könnte ein besserer Mensch sein als sie? Sie war der perfekteste Mensch“, sagte ich ernsthaft, und er nickte, mit einem kleinen Verwundern in den Augen. „Ich kann nur versuchen, ihr im Tode noch gerecht zu werden.“
    „Es … es scheint mir … Reden wir von der gleichen Person?“
    „Wer weiß? Sagen Sie, Pater, kann ich den Friedhof besuchen?“
    Der Pater seufzte. Wir waren sehr hoch oben, der Untergrund schien unter uns leicht zu schwanken – oder der Wind rief diese Illusion in mir

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