Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
trug.
Wieder in meinem Zimmer saß ich frierend vor dem Ofen und wärmte mir die Finger.
Du bist zu zaghaft.
Das Ölgemälde machte keine nennenswerten Fortschritte – Kleidung und Hintergrund waren bereits zufriedenstellend, doch das Gesicht war eine weiße Fläche.
Du bist zu ängstlich.
Ich hatte Angst davor, mit dem Gesicht zu beginnen und damit zu enden, dass ich erneut unzufrieden sein würde.
Du lässt dich einfach treiben.
Ich kam auf diese Weise nicht weiter – weder mit dem Gemälde noch mit den Morden, den gestohlenen Leichen und den wandelnden Toten.
Du bist nicht hartnäckig genug.
Hoesch konnte die Lösung sein. Hoesch stellte die Kondensatoren her, und sicherlich besaßen sie die Skrupellosigkeit, derartige Versuche an menschlichen Leibern zu unternehmen.
Du lässt dich nicht tief genug herab.
Was hinderte mich daran, mich als Fabrikarbeiter in der Firma zu bewerben? Dem Gehilfen des Leichenbestatters eine große Menge billigen Fusels zu spendieren, um danach die Wahrheit aus ihm herauszubekommen?
Du stehst nicht weit genug oben.
Hoesch und all die Geldadligen, die Freiherrn und der Herzog teilten die Profite, die Rendite, die Überschüsse und all die anderen Seltsamkeiten, die sie dem Land und den Arbeitern aus den Rippen schnitten, auf ihrer Insel unter sich auf. Dort zu sein – als Freiherr und Künstler – wäre der Schlüssel zu offenen Ohren und noch offeneren Mündern.
Aber in dieser Kaschemme wird nichts aus deinen Plänen.
„Nun hör schon auf!“, unterbrach ich Ynges vorwurfsvolle Stummheit. Jeder Blick aus ihren Kulleraugen trat ein neues, bohrendes Schuldgefühl in mir breit.
Die neueste Mordserie am Gewerkschaftler Samuel Billinger und seinen Kumpanen, deren unfreiwilliger Zeuge ich offenbar am Hafen geworden war, hatten die Streiks gebrochen. Die Arbeiten gingen normal weiter, Reibereien und kleine Kämpfe ausgenommen – die Köpfe des Streiks schienen abgeschlagen, und nichts war erreicht worden außer dem Tod sicherlich fähiger Menschen. Die Unzufriedenheit grollte in den Straßen – die Armut hatte tiefe Wunden gefressen, und so etwas brach sich früher oder später Bahn, das hatte das vergangene Jahrhundert gezeigt.
Ich hatte immerhin herausgefunden, dass Samuels Familie, der Witwe Billinger und den sieben Kindern, vom ganzen Arbeiterviertel Kondolenz ausgesprochen wurde, und ich entschloss mich, den Blick zwischen Ofen, Ynge und dem Bild meiner geliebten Æmelie schweifen lassend, dass dies mir die Gelegenheit gab, erneut meine Nase in Friedhofsangelegenheiten zu stecken.
„Endlich tust du mal was. Und bald bist du abgerissen genug, um als Arbeiter durchzugehen.“
„Mir fehlt der Staub an den Händen. Die Kohle und das Öl. Das Rasseln in der Lunge. Und meine Kleider haben den falschen Schnitt.“
Ich streifte die Hosenträger meiner Hose wieder über die Schultern. Ich war schmal geworden und die Hose drohte, an mir herabzufallen. Doch immer noch kündeten der Mantel, die Schuhe, der weiche dunkelblaue Schal und die fellgefütterten Handschuhe von meinem heimatlichen Reichtum. Bei der Riegenbank.
Nun gut, es war kein Reichtum. Aber gegenüber dem, was die meisten Æstaner besaßen, war es mehr als genug.
Zum Kondolieren tauschte ich die ebenfalls gefütterte Mütze wieder gegen Æmelies Zylinder.
„Du hast recht“, kommentierte Ynge. „Du wirst nie einer von ihnen.“
„Aber ich habe einen Plan“, sagte ich.
„Der Mord an Ihrem Mann, Frau Billinger, ist ein entsetzliches Verbrechen und muss in schärfster Weise geahndet werden.“
„Sind Sie von der Polizei?“, fragte die verhärmte Frau, der trotz der Tatsache, dass sie sicherlich Ende Vierzig war, noch kleine Kinder um den Rock herum baumelten. Ihr Leib war in der Mitte derart unförmig, dass ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie tatsächlich erneut schwanger war oder nicht.
„Nein, nicht von der Polizei. Sagen Sie, Ihr Mann … hat er Ihnen Geld hinterlassen?“
„Wo denken Sie hin? Wir hatten doch nichts! Das ist doch der Grund, warum er nun tot ist! Diese Ausbeuter! Dieser Hoesch, der Schweinehund, zahlt nicht mal eine Witwenrente!“
„Das dachte ich mir. Erschreckend. Und sehr mutig, wie Ihr Mann sich für eine Verbesserung der Zustände eingesetzt hat. Sagen Sie, wird er ein Begräbnis erhalten?“
„Im Eis. Ja. Übermorgen isses angesetzt.“
„Und …“ Ich bedachte die nach mir drängenden Kondolierenden mit einem gestrengen Blick. „Haben Sie schon einmal
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