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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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hat auch unter den Huren Morde gegeben“, flüsterte ich meinem Begleiter zu.
    „Tatsächlich? Aber ob das mit den Machenschaften des Herzogs zusammenhängt, oder ob da nur wieder ein Perverser seinen Neigungen nachgeht?“
    „Eine davon war mit einem der Anführer bei den Streiks … befreundet. Habe ich zumindest gehört.“
    „Bei Huren weiß man nie. Sie werden meist nicht vermisst, und ihr lasterhafter Lebenswandel verführt so manches kranke Hirn zu Taten, die völlig außerhalb der Ratio stehen“, gab Temmhort zu bedenken. „Hatten Sie nicht auch einmal gesagt, dass sie wegen eines Verbrechens hier seien?“
    „Aber nicht, um eines zu begehen!“, sagte ich eilig, und er lachte. „Das habe ich auch nicht so interpretiert! Sind Sie denn weitergekommen in Ihrem Anliegen?“
    „Leider nicht nennenswert. Ich vermute, dass dieser Fabrikant Hoesch etwas produziert, das moralisch und gesetzlich anfechtbar ist. Aber ich habe keine Beweise.“
    „Nun, dann weiß ich nicht, ob ich Ihnen viel Glück wünschen soll“, lächelte mein Begleiter – der erste Mensch seit langem, mit dem ich ein ganz normales Gespräch führen konnte. „Schließlich kommen die lukrativsten Aufträge von ihm.“
    „Darauf kann ich in diesem Falle keine Rücksicht nehmen“, erwiderte ich. „Unrecht ist Unrecht.“
    Temmhort lachte. „Und je mehr Geld man besitzt, umso wahrscheinlicher ist es, dass man Unrecht damit anstellt, nicht wahr? Wir sollten Gott für unsere unbefleckten Seelen und unseren schmalen Geldbeutel danken!“
    Wie auf ein Kommando erhob ein biblischer Priester seine hohe dünne Stimme zu einem lateinischen Singsang. Als er geendet hatte, bot einer der gnostischen Pfarrer im braunen Lodenmantel an, die Worte auf Deutsch zu wiederholen und zu interpretieren, denn Gott wolle, dass seine Schäfchen verstehen, was er zu ihnen spricht, und darüber nachsinnen.
    Ich selbst war biblisch getauft, wie die meisten in Aquis. Im großen Dom von Kaiser Karl hatten meine gläubigen Eltern die Feierlichkeiten abhalten lassen. Ich war im biblischen Glauben und in der lateinischen Sprache jahrelang unterwiesen worden, doch als ich Æmelie Lochner kennenlernte, war ich genau in jenem Alter zwischen sechzehn und zwanzig, in welchem man nicht sehr empfänglich für die Lehren des Herrn ist. Sie hatte sich den Zugang zu den Wissenschaften wahrhaft erkämpft, hatte zunächst heimlich gelernt, sich als junger Mann verkleidet in die Hörsäle der Rheinisch-Eyfalischen Technischen Hochschule gesetzt, dann Professoren bestochen und Prüfungen heimlich absolviert.
    Domek war einer derer gewesen, die es ihr ermöglicht hatten, die Diplome in Physik und Chemie zu absolvieren und danach sogar ganz offiziell als Frau die Promotion zum Doktor der Naturwissenschaften zu erlangen.
    Seit Gott die Menschen mit dem ewigen Eis gestraft hatte, hatte die Wissenschaft Wege gefunden, das Leben zu erhalten, sogar zu verbessern, neue, unglaubliche Möglichkeiten und Techniken zu entdecken. Der Glaube war vielen Menschen dadurch heute, im Jahr 896 A.N., fern geworden – auch mir war es so ergangen. Æmelie war mir wie ein Gott im Kleinen erschienen, sie hatte Dinge erschaffen, Gesetzmäßigkeiten durchschaut. Wir Menschen waren unsere eigenen Götter geworden.
    Doch jetzt war sie tot, und zu diesem Zeitpunkt erwiesen sich all diese Gedanken als leer und überheblich. Sie war nun bei Gott oder in der Hölle oder in einem fernen Paradies, in das auch Wissenschaftler gelangen. Geblieben waren nur die Puppe und das langsam Verblassende, das Æmelie in mir war.
    Ich war stehengeblieben. Temmhort wandte sich zu mir um. „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute. Morgen fahre ich wieder nach Hamburg – gebe Gott, dass die Gräfin keinen Racheakt an uns verübt!“
    Er grüßte mit der Hand, und das war das letzte Mal, dass wir uns im Leben sahen.

    Als ich einige Tage später von einem neuerlich vergeblichen Ausflug zu einem aluminiumverarbeitenden Hoeschwerk wiederkam, wartete Domek auf der Treppe und unterhielt sich mit Lotte. Kichern und schäkernde Bemerkungen wechselten von Mund zu Ohr. Ich hatte darauf gewartet, dass das Verlangen nach Opiumpfeifen mich umtreiben würde, doch es war ausgeblieben – statt der von Domek angekündigten Lust, einen weiteren Tag auf dem Altar einer durchrauchten Nacht zu opfern, blieb weiterhin die Reumütigkeit, mich nie wieder derart sittenlos gehen zu lassen. Auch die lüsternen Gedanken an Lotte hatten

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