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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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letzter Zeit der Ersatz für Æmelies Blicke waren. Ich wusste, das Bild würde mir eines Tages gelingen, und so hatte ich Madame darum gebeten, es für mich aufzubewahren, für den Fall, dass ich eine längere Zeit nicht wiederkam.
    Im Inneren des Turms hallte auf einmal ein Schrei wider, vielleicht der gepeinigte Schrei eines Verletzten oder Todkranken. Vielleicht der ausweglose Schrei eines Wahnsinnigen, in dessen Seele gerade gewühlt wurde. Ein Blick zurück auf die Teslaspulen machte mir klar, dass der Professor seine Nervenkranken vermutlich gerne mit hohen elektrischen Spannungen zu heilen versuchte. Es überlief mich kalt, und ich legte das gelbliche Papier der Zeitung zurück. Vielleicht war mein Hiersein keine gute Idee, vielleicht hatte ich ganz recht gehabt damit, Æmelies Portrait an Madame zu geben, obgleich ich mich selbst noch für die übertriebene Vorsichtsmaßnahme belächelt hatte.
    Vielleicht wird er meinen Geist auseinandernehmen und mich von Ynge trennen. Vielleicht wird er herausfinden, dass ich Æmelies Ehemann bin. Dann lässt er mich niemals mehr heraus und sperrt mich in eine modrige Zelle ein.
    Es würde ihm nicht schwerfallen, Æsta zu versichern, dass ich wahnsinnig war.
    Ich erhob mich mit zaghaft knackenden Kniegelenken und trat an das Pult des Fräuleins.
    „Kann ich irgendwo … kann ich auf die Toilette gehen?“
    Dabei warf ich einen Blick auf ihre Schreibmaschine. Ein einziger Blick nur auf das Blatt, das sie beschrieb, der mein Blut gefrieren ließ wie den Eisberg, über den Æsta gekrochen war wie ein Parasit.
    „Es ist direkt vor dem Aufzug. Dieser Gang dort.“
    „Danke“, krächzte ich und wandte mich ab. Der Gang zog sich schwarz und gähnend zu einer vergitterten Öffnung, in der ein Paternoster seine dampfbetriebenen Kreise zog. Ich schob mich an der Tür zum Klosett vorbei und stand zaudernd dort, wo nun die Kabine des Fahrstuhls in die Tiefe klapperte.
    Naðan von Erlenhofen, Eintreffen 10 Uhr , hatte auf dem Papier gestanden. Meine Identität war kein Geheimnis mehr, und vielleicht war sie das auch nie gewesen. Vielleicht hatte der Mann mit dem durchdringenden Blick, dem Monokel, dem Gehstock mich bereits erkannt, als wir einander gegenüberstanden.
    Oder Domek hatte nachgeholfen.
    Der Paternoster erreichte das Erdgeschoss. So leise ich es vermochte, griff ich nach der Gittertür, schob sie beiseite und trat in den langsam hinabsteigenden Fahrstuhl.
    „Einfach ist es, in die Unterwelt hinabzusteigen“, flüsterte meine klassische Bildung mir zu, während der Fahrstuhl mich in die Finsternis führte.
    Tag und Nacht stehen die Tore in die Dunkelheit offen.
    „Herr von Erlenhofen?“, rief die Sekretärin, die das Scheppern der Eisenstangen trotz meiner Bemühungen gehört haben musste.
    „Entschuldigen Sie, ich bin an die Tür gestoßen“, ließ ich mich noch vernehmen, bevor die Tore der Unterwelt mich in ihre Arme nahmen. Das Rattern der Maschine, die den Aufzug betrieb, begleitete mich hinab.

    Alles, was jemals über Irrenanstalten geschrieben wurde, stimmt. Alles, was jemals über Fahrten in die Unterwelt geschrieben wurde, über Orpheus und Æneas und Inanna, stimmt.
    Der Fahrstuhl endete im Keller, oder vielmehr endete er dort nicht, sondern begann einen Aufstieg, der so leicht war wie der Abstieg, doch meine Höllenfahrt war nicht so simpel zu beenden. Ich öffnete das Gitter – das Geräusch ließ den ganzen Schacht erbeben – und stieg hinaus.
    Kalt, dunkel bis auf eine im Sterben liegende Glühlampe, modrig grub sich dieser Keller in den Eisberg hinein. Hier unten bewahrte Professor Roþblatt sein dunkles, dämonisches Herz auf. Hier unten gab es Zellen und Kerker und verschlossene Türen. Als meine Schritte im Korridor herumirrten, wurde Klopfen an den Türen wach, das Klopfen derer, die die Verlorensten auf dieser ganzen weiten Welt waren. Im Keller des Æstaner Stifts, in den Klauen eines Mannes, der dafür gesorgt hatte, dass sie von allen Lebenden vergessen wurden.
    Sie krochen an die Türen, die Dunkelheit malte ihre nackten, beschmutzten Leiber deutlich vor mein geistiges Auge. Sie scharrten auf dem Boden, sie gruben sich die Fingernägel in ihr eigenes Fleisch, um überhaupt noch etwas zu spüren.
    „Du bildest dir das ein, Naðan“, warnte Ynge mich, doch ich zog den metallenen Riegel von einer vergitterten Sichtluke, die mich durch die Tür blicken ließ, um Ynge das Gegenteil zu beweisen. Nein – dahinter war es dunkel. Eine Stimme

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