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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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mich und fasste auch diese Dokumente. Es war mein eigener Tuschestrich. Es waren Æmelies Pläne, um zu fliegen. Es waren ihre geliebten Fluggeräte, die wir gemeinsam auf Papier zu zerbrechlichem Leben erweckt hatten. Ich rollte die Seiten zusammen, meine Kiefer klapperten schlotternd aufeinander.
    Er hatte sie mit ihrer Leiche geraubt. Die Pläne waren hier. Der Prototyp musste hier sein. Sie selbst … sie selbst musste hier sein.
    Ich stürzte aus dem Büro heraus, riss Türen auf oder prallte gegen verschlossene, bis ich in den großen Raum stolperte, der den Korridor beendete. Ein neuerlicher Griff nach einem Schalter enthüllte mir ein Laboratorium, in welchem der Professor offenbar gearbeitet hatte, bis ihm meine Ankunft mitgeteilt worden war.
    Dinge lagen verstreut herum, eine Gasflasche war an etwas angeschlossen, das wie die Vergrößerung von Æmelies Prototyp aussah.
    Also hatte er es geschafft, und er versorgte sie mit Gas – so konnte er sie während des Betriebs wieder aufladen. Damit vermochten seine Shellys ewig herumzulaufen. Tage. Wochen. Monate.
    Ich streckte auch danach meine Hände aus, doch das Ganze hatte die Größe eines Rucksacks, die Erlenhofenzelle war nur etwas kleiner als der Tank. Ein Gestell hielt die Überreste eines Menschen – eine metallene Verstrebung als Rückgrat stützte ihn, und er streckte Arme und Beine aus totem Fleisch aus. Es stank nach Formaldehyd – Drähte und Schläuche verbanden die menschlichen Gliedmaßen mit dem Körper, der an ein Strichmännchen gemahnte.
    Weitere abstoßende Experimente offenbarten sich mir auf Tischen, in gläsernen Behältnissen voller konservierender Flüssigkeit, an den Wänden. Er schien besonderes Gefallen an Gliedmaßen gefunden zu haben – diese rein mechanisch nachzuahmen, war sicherlich enorm schwierig, weshalb er seinen Vorteil aus der Wiederbelebung von Gottes perfektester Schöpfung zu ziehen versuchte: der menschlichen Hand.
    Ich wunderte mich, dass ich mich nicht abwenden, mich nicht übergeben musste, doch erstaunlicherweise war ich völlig ruhig, nahm all die im kalten Licht wahrgenommenen Eindrücke in mich auf.
    In dem Moment, als ich übriggebliebene Leichenteile in einem Tank begutachtete – menschliche Organe, ein Kopf mit dem Tode überlassenen Gesichtszügen, schrillte der Alarm.
    „Dort hinten“, wisperte Ynge erstickt, und ich hatte sie niemals so bestürtzt erlebt. Es war, als empfände sie die Emotionen, die ich nicht erfassen konnte. Als treffe sie die Perversität dieses Labors mit aller Macht, als habe sie sich wie ein Schutzschild vor mich geworfen.
    Ich trat näher, obgleich das Schrillen der Alarmglocke meine Ohren betäubte und mich daran zu gemahnen versuchte, dass ich einen Ausweg würde finden müssen. Zunächst dachte ich, der Anblick des ermordeten Freudenmädchens Susi hätte Ynge so aufgeschreckt – ihr Körper war fest in ein feucht glänzendes Tuch gewickelt, in ihren leeren Augenhöhlen steckten Apparaturen, Messinstrumente, Antennen – Drähte ragten an den seltsamsten Stellen aus ihrem Schädel, doch der Professor schien das Experiment aufgegeben zu haben. Der entropischen Kraft des Todes überlassen, lag das arme Fräulein da, und hatte es trotz ihres zweifelhaften Lebenswandels nicht verdient, dass solcherlei Taten an ihr verübt wurden. Doch der groteske Anblick dieses Geschöpfs war es nicht gewesen, der Ynge derart erschreckt hatte.
    Es war Æmelie gewesen.
    Wie Schneewittchen lag sie in einem Glassarg. Das Gefäß war mit Flüssigkeit gefüllt, und ihr Körper schwamm nackt darin. Ich stöhnte gequält auf, näher taumelnd wie ein Betrunkener lehnte ich meine Stirn gegen den Sarg, der sie auf einem Wandbord auf die Auferstehung warten ließ. Unangetastet lag sie dort, nur die Haare waren ihr ausgefallen oder geschoren worden, oder sie hatten sich in der grausigen Flüssigkeit, in welcher sie schwamm, aufgelöst. Die schrecklichen Wunden, die die unerbittlichen Griffe der Shellys ihr am Hals und am Rücken zugefügt hatten, waren sauber vernäht worden. Der einzige Eingriff, den der grässliche, unmenschliche Professor ihr zugefügt hatte, waren Drähte, die aus ihren Nasenlöchern und Ohren herausragten.
    Ihre Augen starrten mich verzweifelt an, und in diesem Moment begann Ynge zu weinen. Sie weinte sehr leise, doch Tränen flossen aus ihren Puppenaugen und benetzten meine Hand, die ich um sie verkrampft hatte. Ich zwang mich zu atmen.
    Hier war sie; sie, die ich begraben wollte.

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