Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
war ich das? Eine Frau jedenfalls kreischte auf und starrte Ynge mit geweiteten Augen an, einige andere rührten sich nicht, manchen war ein panischer Ausdruck auf dem Gesicht gefroren. Zwei jedoch waren aufgestanden, und keine physische Fessel war da, die sie hielt. Sie setzten sich nun auf den Rücken der von mir niedergeknüppelten Wärterin.
„Tut, was die Puppe sagt!“, zischte eine mit heiserer Stimme.
Himmel – Ynge! Sie hörte sie auch!
Ich verharrte noch eine Sekunde im Türrahmen und sah mit an, wie sie, verbissen schweigend, begannen, der Sadistin die Haare in Büscheln auszureißen. Ein Schauder überlief mich, als ich die Schreie mit der schweren Tür einschloss.
Im Aufzugsschacht war nun, mit abgelassenem Dampf, Ruhe eingekehrt. Der Paternoster bewegte sich nicht mehr, doch allem Anschein nach machte sich bereits jemand auf den Weg durch den Schacht – und von links hörte ich nun auch trampelnde Schritte in einem Treppenhaus.
Also gab es doch ein Treppenhaus! Konnte ich mich mit dem nicht einmal unterarmlangen Prügel erwehren, mir gar einen Weg nach draußen erkämpfen? Mein Lehrer mochte mich ab und an gelobt haben, aber nein, so gut war ich nicht im Stockfechten, erst recht nicht gegen Schlagetods, die es ernst meinten.
„Zum Licht des Herrn musst du aufsteigen“, flüsterte Ynge und sprach aus, was ich bereits gewusst hatte, als ich den Flur betreten hatte. Mit einem Gefühl, als würde Gott durch das trübe Licht einer Glasrosette mit mir sprechen, sah ich hinauf in das merkwürdige Jugendstilschmuckstück des Kellergeschosses. Ich seufzte, meine von Strom durchzuckten, von Dampf versehrten, von Kampf und Kraftanstrengung verzehrten Muskeln schmerzten und machten mir damit bewusst, wie wenig Wert ich in letzter Zeit auf körperliche Ertüchtigung gelegt hatte. Zunächst jedoch griff ich nach einem Stuhl – denn der Kopf des Korridors war heimelig wie eine Leseecke mit einem Tischchen, einem geklöppelten Tischtuch und einem kleinen getrockneten Blumenstrauß hergerichtet. Ich bemühte mich, mit dem Stuhl die Tür zu versperren, die in das kleine, runde Treppenhaus führte, dessen Form sich vor der Wand erkennen ließ. Es war kaum mehr als ein Notausgang und schien zudem verschlossen, damit die Verrückten sich nicht an der Flucht versuchten. Von innen polterte jemand dagegen.
„Schlüssel! Verdammt, ich seh nichts!“ Ich klemmte den Stuhl unter die Klinke.
„Treten Sie die Tür ein!“, kam ein unwirscher Befehl.
In Windeseile, mit schweißnassen Händen, rückte ich den Tisch unter das Fenster, doch auch das brachte mich nicht näher ans Tageslicht. Ich atmete gepresst, beinahe in kleinen Schluchzern. Schlurfende Schritte ließen mich innehalten, während im Treppenhaus gegen die Tür gebollert wurde. Ich wandte mich um. Der ganze Korridor stand voller Verrückter. Sie waren aus den Zimmern gekommen, in denen sie dazu verdammt waren, den ganzen Tag zu sitzen und auf ihren Tod oder baldige Besserung zu warten. Sie hatten es gewagt, hervorzukommen und sahen mich an. Es waren alles Frauen, vermutlich gab es nach Geschlechtern getrennte Stockwerke für die Nervenkranken. Eine Frau trat vor und legte einen Finger an Ynges Wange. „Süße, du. Süße. Hm?“
„Vielen Dank“, erwiderte Ynge müde, jedoch geschmeichelt, und die Frau lächelte selig.
„Ihr müsst mir helfen. Ich muss hoch an das Fenster“, flüsterte ich. Hinter ihnen arbeitete sich jemand durch die eiserne Gittertür des Aufzugs, schob sie langsam beiseite und verharrte dann, als er die steif in ihren Kittelchen dastehenden Leiber gewahrte.
„Bitte!“, sagte ich erneut. Zwei Frauen kamen heran, sie schoben sich ungeduldig durch die Menge. Sie sprachen miteinander, ein flüssiges Gebrabbel, vielleicht eine osteuropäische Sprache oder einfach etwas Erfundenes. Eine von ihnen wuchtete den zweiten Stuhl auf das Tischchen. Die andere stabilisierte den Turmbau. Ich ergriff die Gelegenheit, kletterte auf das schwankende, knackende, ächzende Gebilde und warf den Prügel in das Fenster, das splitternd zerbarst. Eine der Frauen klomm ebenfalls auf das Tischchen. Als ich es wagte und in dem Augenblick an den mit Splittern übersäten Fensterrahmen sprang, in dem die Tür des Treppenhauses aufflog, stand sie mir bei und stützte Füße und Beine von unten, so dass ich es schaffte, mich hinaufzuziehen und meinen Oberkörper durch die brechenden Bleiverstrebungen der Glasblüte zu schieben. Ynge schrie gequält auf,
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