Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Der ich die letzte Ruhe schenken wollte, bevor mein Leben endete.
„Naðan“, schluchzte Ynge. „Sie werden uns finden!“
Ich streckte meine Hände nach meiner Frau aus, doch sie stießen gegen die kalten Wände des Gefäßes, tasteten sich sinnsuchend daran entlang und fanden nichts zum Festhalten.
„Naðan!“
„Ich muss sie mitnehmen!“
„Das kannst du nicht! Du musst wiederkommen, mit dem Stadtkanzler oder den Gendarmen oder den Truppen des Kaisers!“
„Dann ist sie vielleicht nicht mehr hier!“, begehrte ich auf. Außer dem Krach der Glocke war es hier unten ruhig wie in einem Grab. Es roch durchdringend nach Chemikalien, doch noch war niemand hinabgestiegen, um unsere Ruhe zu stören.
„Meine Æmelie.“
„Naðan!“
War das der Wahnsinn, der innerhalb dieser Mauern lauerte und nach mir griff?
„Naðan“, wiederholte die Puppe oder Æmelies Mund im Sarg. „Du musst jetzt fliehen. Du wirst wiederkommen.“
Ich nickte langsam, und mein Brustkorb wurde von einem derart atemringenden Schluchzer geschüttelt, dass ich dachte, ich müsse daran ersticken. Doch ich erstickte nicht.
Sie war tot. Nie wieder würde ich mir einreden können, sie warte in einer Zelle darauf, dass ich sie befreite. Nein – sie wartete nur noch darauf, von mir zu Grabe getragen zu werden. Sie war tot.
„Die Schritte zurückzulenken und ans Licht zurückzukehren, das ist Qual, das ist Mühsal“, erinnerte ich mich an Æneas ’ Reise – ich war am tiefstmöglichen Punkt angekommen, doch nun schickte mich die tote Æmelie wieder hinauf – und wie grausam war das von ihr! Auf der Suche nach Beweisen griff ich wahllos einige Papiere, die mit Versuchsaufbauten und Schemazeichnungen übersät waren, und stolperte zurück in den Korridor, der immer noch von den blau züngelnden Spulen erhellt wurde.
Befanden sich Shellys hinter den verschlossenen Türen? Waren am Ende sie es gewesen, die in den Zellen gekratzt und gescharrt hatten? Gab es eine Möglichkeit, sie zwischen die Teslaspulen zu stoßen, damit sich diese daran entluden?
Einige Türen waren wie Spinte nebeneinander angeordnet. Ich riss die Verkleidung eines kleinen Gitterfensters beiseite, hässlich kratzte Metall auf Metall. Ich konnte kaum etwas erkennen, doch das diffuse Licht aus dem Büro des Professors ließ mich ein totes Gesicht erahnen – ein Mann hing in diesem Spint wie ein Mantel in einem Kleiderschrank.
„Lass … ihn!“, flüsterte Ynge, als sich meine Hand an der Tür hinuntertastete und den reglosen Knauf fand. Mit zitternden Fingern schloss ich die Klappe wieder – der Spint war abgeschlossen.
Mein Blick fiel jedoch auf einen weiteren Kippschalter, wuchtig, metallen, mit einem hölzernen Griff, jedoch ohne Schlüsselloch – warum auch, der Professor vermutete sicherlich nicht, dass jemand Unbefugtes seine Sicherheitsmaßnahme von innen würde ausschalten müssen. Die Shellys besaßen nicht die Intelligenz, einen Schalter zu suchen – sie besaßen auch nicht die Intelligenz, eine unverhoffte Stufe zu meistern.
Aber sie konnten Æmelie töten. Sie waren fähiger, als ich dachte. Oder töten war sehr einfach.
Ich hatte es noch niemals tun müssen. Töten. Ich hatte mich aus jedem der zahlreichen kleinen Kriege mit Nachbarländern heraushalten können – aus jenem blutigen gegen Frankreich, in dem die Eyfalia zum Glück neutral geblieben war, aus jenem gegen Russland, den nicht der Blutzoll, sondern die Kälte entschied, aus der lächerlichen Fehde gegen das Herzogtum Würtemberg, aus den zahlreichen Eroberungsversuchen an den Küsten der reichen afrikanischen Länder. Ich hatte niemals jemanden getötet – doch ich wusste, dass mich kein Gewissen daran hindern würde, an Professor Roþblatt Rache zu üben.
Wichtiger war, dass Æmelie ein Grab erhielt, rief ich mich zur Ordnung, als ich den Schalter herunterzog und dem Erlöschen der Spulen lauschte. In diesem Moment versagte auch die flackernde Glühlampe endlich ihren Dienst, als habe sie nur auf diesen Gnadenakt meinerseits gewartet, und die Dunkelheit um schloss mich so gnädig und kalt, als sei sie der Dunst des Styx ’ .
Ich tastete mich vorwärts, meine Füße nahmen durch die Sohlen meiner instandgesetzten Schuhe wahr, dass ich die Metallplatten passierte, das Rattern des Paternosters geleitete mich weiter, ebenso der in der Finsternis deutlicher werdende, blasse Lichtkeil, der durch den Schacht des Fahrstuhls hinabsank. Momentan befanden sich alle Aufzugskabinen
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