Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
unten barsten Schüsse aus Musketen, und diese schreckliche Repetierwaffe der Shellys feuerte eine Kugel nach der anderen ab. Die kranken Frauen schrien, doch ich konnte nicht zurückblicken. Ich wuchtete mich durch die Öffnung und kroch in den schmutzigen Schnee.
Wenig Zeit blieb mir, während ich von einem heiseren Schluchzen geschüttelt wurde und meine Hände im Schnee säuberte, obgleich kein Blut sie besudelte.
Dann jedoch rappelte ich mich auf, atmete die kalte graue Luft ein; der Nebel des Styx ’ war bereits aus der Unterwelt hervorgequollen. Den Morgen hindurch war von allen Seiten dichter Dunst auf Æsta zugekrochen und umwaberte es nun derart dicht, dass außer den Fabriken jegliches Leben in der Stadt stillzustehen schien. Würde das meine Rettung sein? Ich rannte, schlitterte, stürzte, sprang auf und lief weiter, wie ich nie in meinem Leben gelaufen war. Die Gedanken an Æmelies toten Leib, an die Shellys, die Kranken, die Schüsse saßen mir im Nacken, der Geschmack von Formaldehyd auf der Zunge. Die brabbelnde Sprache der beiden Gefangenen, der Geruch nach Krankheit und menschlichem Schmutz …
Der Nebel verstärkte die Angst, richtete mir die Nackenhaare auf, kroch mir in Glieder und Kopf und bedeckte mich mit einer Watteschicht, einem einschnürenden Verband, der mich meinen Verstand kosten wollte. Mein Atem entfuhr mir so schnell, dass Sterne vor meinen Augen tanzten. Überall um mich herum mochten Menschen aus dem Nebel treten, um mich festzuhalten. Körper. Leichen. Automaten.
Schrillte die Alarmglocke der Irrenanstalt auch über den Straßen Æstas oder war sie schlichtweg noch in meinem Kopf? Panisch rannte ich bergab, querte die Trasse der Zahnradbahn und merkte erst dann, dass ich Ynge verloren hatte.
Keinen Laut hatte die Puppe von sich gegeben, obgleich sie doch sonst so gesprächig war. Ich wandte mich um und sah sie auf der Trasse liegen, neben der Kette, mit der die Gondel den Berg hinaufgezogen wurde. Sie lag da, als wäre sie nichts weiter als eine Puppe.
Auf der anderen Seite – eine niedrige Mauer trennte die Trasse von den umliegenden Straßen und Gebäuden ab – schälten sich Gestalten aus dem Nebel.
„Nein!“ Mit einem Satz schwang ich mich über die Mauer auf meiner Seite, meine verschwitzten Hände froren beinahe an der eisigen Feuchtigkeit darauf fest. Kauernd kam ich bei Ynge an – die Wesen, menschlich oder nicht, schienen zu zweifeln, ob sie mir auf die Trasse folgen sollten; oder die Mauer stellte ein zu großes Hindernis für sie dar. Ich packte Ynge und drückte sie an mich, als der Professor sich zwischen seinen Automaten hindurchzwängte. Er war keine drei Meter von mir entfernt und lächelte schmal.
„Herr von Erlenhofen. Dachten Sie ernsthaft, mein Gedächtnis wäre so schlecht, dass ich den tölpelhaften Künstler aus Venedig nicht erkenne? Sie sind umstellt. Trotz Ihres bedauerlichen Geisteszustands können wir über Ihren Verbleib diskutieren, wenn Sie mir die Pläne geben.“
„Welche Pläne?“, stammelte ich mit aufeinanderkrachenden Zähnen. Meinte er die Fluggeräte?
„Halten Sie mich nicht zum Narren! Die Pläne für die Gasbatterie! Ich weiß, dass Æmelie an etwas Besserem als diesem lächerlichen Prototypen gearbeitet hat!“
„Nehmen Sie ihren Namen nicht in den Mund!“, fuhr ich ihn an, und das Lächeln verließ sein Gesicht.
„Ich denke, um eine Einweisung werden Sie nicht herumkommen, junger Mann. Dann können wir gerne Ihr Zimmer über dieser Opiumhöhle durchsuchen, wenn Sie unkooperativ sind. Oder haben Sie die Pläne bereits nach Aquis übersandt? Wir werden auch in diesem Fall Möglichkeiten finden, daran zu kommen!“
Ich zog mich von der Bahntrasse zurück. Eines der Wesen mit grausiger Eisenmaske starrte mich aus leblosen Augenschlitzen an. Befand sich noch ein Gesicht hinter der Maske, oder war es zerstört? Steckten Drähte und Antennen in seinem Gehirn? Gab es Gedanken hinter diesem kruden Metall?
Die Kette der Zahnradbahn bewegte sich. Die Gondel wurde mit einem Klacken von unten in Gang gesetzt und zog sich langsam in unsere Richtung. Der Professor betätigte irgendetwas am Rücken seines maskierten Shellys und dieser begann, auf allen vieren wie ein Hund das Hindernis zu überklettern. Er sah aberwitzig und menschenunwürdig aus, doch ich erkannte, dass ich nicht darauf hoffen konnte, dass er langsam genug war, um von der Zahnradbahn überfahren zu werden. Mit Ynge im Arm setzte ich erneut über die Mauer,
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