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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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dem verehrten Monsieur Donner geliehen hatte, eine Minute alleine zu lassen und hinunterzueilen. Es bestand auch kein Grund, dem Mädchen zu mißtrauen, schließlich hatte sie ein Schreiben der Domina vorgelegt, das die Wirtin zwar nicht zu lesen vermocht, aber sogleich am Wappen erkannt hatte. Aus der einen wurden etliche Minuten.
    Der Fremde in ihrer Diele, ein honoriger Herr, Kandidat der Theologie aus Helmstedt und einst innigster Jugendfreund des seligen Monsieur Donner, war äußerst beredt, um nicht zu sagen, redselig. Er beteuerte seine Hoffnung, Monsieur Donner als Mieter nachfolgen zu können, was gewiß auch dem Andenken des lieben Verstorbenen diene. Dabei machte er ein so ergreifend grämliches Gesicht, daß die Wirtin, die ihren letzten Mieter nicht gerade geliebt hatte, feuchte Augen bekam. Er verstand es auch, umgehend die reifen Vorzüge der Dame des Hauses zu erkennen und zu lobpreisen (›Madame de la maison‹, gurrte er und leckte sich dabei flink die Lippen, was nicht ganz nach den strengen Vorschriften der französischen Sprachlehre, seiner Sache jedoch sehr förderlich war). Oft habe sein lieber Freund von ihrer Güte geschrieben, ja, und von der unvergleichlichen Art, wie sie ihr Haus führe, davon ganz besonders, von dieser Unvergleichlichkeit. Immer reinlich und dem Schönen zugewandt. Leider habe der selige Adam versäumt, er schlug errötend die Augen nieder und drückte die gefalteten Hände unters Kinn, den frommen Liebreiz zu erwähnen, den er nun vor sich sehe. Madame möge seine Vermessenheit verzeihen, aber was wahr sei, sei wahr. Und gottgegeben, ja. So sei es doch, alle Schönheit komme von Gott. Sein Freund Adam sei nicht kalt gewesen, das nicht, aber er habe seine tiefen Empfindungen hinter der Würde seines Amtes verbergen müssen …
    An dieser Stelle ging Jean der Text aus. In dem Vaudevillespiel, aus dem er ihn entliehen und für die Situation passend abgewandelt hatte, setzte nun die Musik ein und spielte zu einer mehr als frechen Tanzeinlage auf, was hier natürlich nicht angebracht war. Aber das machte nichts. Er hatte sowieso schon ein bißchen dick aufgetragen, und die Wirtsfrau war längst bereit, ihm die Wohnung zu überlassen. Sobald sie geräumt sei, man erwarte die Verwandten des armen Verstorbenen in Kürze. Wenn er ihr das Gasthaus nenne, in dem er logiere, werde sie ihr Mädchen mit Nachricht schicken, es könne nur noch wenige Tage dauern, ganz wenige Tage.
    Unterdessen sah sich Rosina in der Wohnung des Toten um. Die war schlicht, um nicht zu sagen, spartanisch, ganz wie sie es erwartet hatte, und bestand aus zwei Zimmern, einer kleinen Schlaf- und einer etwas größeren Wohnstube. Sie hielt sich nicht lange mit Schrank, Kommode und Truhe auf, auch nicht mit den Schubladen, das alles hatte Wagner gewiß gründlich durchstöbert. Sie ließ ihre Finger durch die Polster des einzigen Sessels gleiten und fand nichts als einen schmerzhaft vorstehenden Nagel und eine Menge Staubflocken.
    Nun nahm sie sich die Bücher in dem kleinen Regal am Fenster vor. Keines diente nur der Erbauung, nicht einmal Klopstocks Oden oder Brockes naturpreisende Gedichte waren darunter, die doch in jedem Hamburger Salon mit einem Mindestmaß an Lesefreude oder Modebewußtsein zur Schau gestellt und hin und wieder sogar gelesen wurden.
    Die meisten erwiesen sich als Unterrichtslektüre. Da waren Kirchmanns grammatische Übungen für den Lateinunterricht, Ulrich von Huttens Gesprächsbüchlein, die Ovidii Tristia, Ovids Tristien aus seinem langwährenden Exil am Schwarzen Meer, eine griechische Vokabelsammlung, ein Geographiebuch von Johann Hübner und gleich daneben dessen berühmtes Lehrbuch für die Biblische Geschichte Zwey und fünfzig auserlesene Biblische Historien, den Lehrenden und Lernenden zum Besten abgefaßet. Auch die Epistolae Ciceronii , Ciceros Briefe an seinen Freund Atticum, Gottscheds Ausführliche Redekunst, nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neueren Ausländer für den Rhetorikunterricht und schließlich der Index Reinecii, ein Lehrbuch in Deutsch und Hebräisch für den Hebräischunterricht.
    Ein Buch, an das Rosina sich nur zu gut erinnerte, lag auf der Kommode. Sie schlug den Deckel auf und zuckte zusammen. Es war sogar die gleiche Londoner Ausgabe von 1712, über der sie oft in der Bibliothek ihres Vaters gesessen hatte, seine unerbittlichen Augen in ihrem Rücken. Eine kriegerische Reiterszene schmückte den Kopf des ersten Blattes,

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