Die zerbrochene Uhr
Liebesschwüre?«
»Für Donners Liebesschwüre hätte ich keinen Schritt getan, Monsieur Herrmanns, die hätten mich kaum interessiert. Wobei ich nach allem, was ich inzwischen über ihn weiß, nicht einmal glaube, daß er jemals welche verfaßt hat. Nein, dieser Brief ist von jemand anderem, von einer Dame, und wenn er bekannt wird, würde er sie sehr kompromittieren. Den Adressaten auch, obwohl ich glaube, daß es ihn nicht so bitter treffen würde. Donner hatte diesen Brief, und er hat ihn übel benutzt. Aber das ist ja nun vorbei, der Brief ist nur noch wichtig für die erheblich angegriffene Seelenruhe dieser Dame. Sie fürchtete, der Brief werde gefunden und sein Inhalt bekannt werden, spätestens wenn Donners Verwandte angereist kommen, um seine Habseligkeiten einzusammeln.«
»Eine Dame? Sie ist verheiratet. Oder ist der Adressat verheiratet?« Claes fand, der Nachmittag nehme eine außerordentlich anregende Wendung.
Wagner, der sich beherrscht und den Brief zwar nicht gelesen, aber inzwischen doch auf die Namen in der Anrede – Melchior – und der Unterschrift – Melusine – gesehen hatte, runzelte unwillig die Stirn. Nicht nur, weil er den Namen Melusine für eine anständige Frau unpassend fand: »Die Namen sagen mir nichts. Es sind ja auch nur Vornamen. Obwohl – Melchior? Das erscheint mir irgendwie vertraut, ein nicht sehr gewöhnlicher Name, ja, irgendwie vertraut. Eure Diskretion«, er hüstelte und wischte sich, diesmal ganz ohne sein großes blaues Tuch, über die Stirn, »ist ehrenvoll, aber leider, Rosina, leider hier nicht angebracht, ja, leider. Ihr müßt uns die ganze Geschichte erzählen. So ein Brief, selbst wenn er nur Liebesworte enthält, kann eine Waffe sein, gegen die man sich verteidigen muß. Oder will. Ja. Wenn dieser Brief so kompromittierend ist, wie Euch bedeutet wurde, hatte wer immer ihn geschrieben oder bekommen hat einen Grund, Donner zum Schweigen zu bringen.«
Rosina seufzte. Natürlich wußte sie das. Sie wußte auch, daß Monsieur Bucher, Donners Kollege und Adressat der gewiß schüchternen, aber eindeutigen Worte, mehr als genug Anlaß für Rachegelüste gehabt hatte. Viel mehr als in diesem Brief zu lesen waren. Auch wenn sie es überhaupt nicht wollte, mußte sie die ganze Geschichte erzählen. Also tat sie es. So knapp wie möglich. Sie erzählte, wie Donner, als er noch vorgab, Buchers Freundschaft zu suchen, den Brief auf dessen Sekretär gesehen und eingesteckt hatte. Wie er danach begonnen hatte, Bucher zu beobachten, seine zärtliche Verbindung mit der Stiftsdame entdeckt und den Brief benutzt hatte, den Kollegen zu erpressen. So hatte Bucher zur Verwunderung aller auf die Bewerbung zur Beförderung zum Lehrer der Sekunda verzichtet, damit auch auf die Aussicht, in einigen Jahren Prorektor und irgendwann womöglich Rektor zu werden.
Warum Mademoiselle Nieburg sich für ihre Liebe schämte und fürchtete, dem Gespött der ganzen Stadt und der herablassenden Wohlfahrt ihrer Brüder und Schwägerinnen preisgegeben zu werden, verschwieg sie. Das ging nur die hasenherzige Mademoiselle Nieburg und ihren unglücklichen Verehrer etwas an und war hier nicht von Belang.
»Bucher also«, sagte Wagner, und Claes fand: »Der hatte nun wirklich Grund, den Kerl umzubringen.« Und Rosina rief: »Aber er war während der Mittagspause doch in der Bibliothek.«
Worauf ein heftiger Disput begann, was das Zeugnis des alten Professor Wolf und seines begriffsstutzigen Gehilfen wert sei. Die Bibliothek habe mehrere Räume, es wäre ein leichtes für Bucher gewesen, flink die wenigen Schritte ins Johanneum hinüberzulaufen, um den Konkurrenten und die Gefahr für das Lebensglück seiner verehrten Melusine aus der Welt zu schaffen.
»Aber woher soll er den Stichel gehabt haben?« hielt Rosina dagegen.
»Daher, wo der Mörder ihn eben hergehabt hat. Das wissen wir nicht. Godard hat ihn irgendwo liegenlassen, im Gasthaus Zum Weißen Einhorn , beim holländischen Gesandten, in der Godeffroyschen Weinhandlung oder sonstwo. Wagner hat die Liste der Häuser, in denen Godard in den Tagen vor dem Mord seine Aufträge ausgeführt hat.« Claes war begeistert von der neuen, so vielversprechenden Spur. »Er kann ihn auch auf der Straße gefunden oder einem Bettelkind abgekauft haben.«
»Da sind aber noch mehr Briefe. Danach hatten auch andere Grund, Monsieur Donner zu fürchten. Hier!« Sie griff wahllos in den kleinen Stapel und hielt einige der Zettel hoch. »Notizen über alle
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