Die zerbrochene Uhr
ausgefüllt, der ruhig und erfahren den Tod eines Lehrers und das Verschwinden eines Schülers aufklärt. Und doch hatte er immer wieder daran denken müssen, daß es vielleicht nur ein Zufall war, daß sein eigener Sohn sicher in seinem Haus saß, mit nichts beschwert als der Sorge um seine beiden Freunde. Der Gedanke bereitete ihm Übelkeit.
In der Diele traf er Christian, zerzaust und verschwitzt, den Rock zusammengerollt unter dem Arm, das Hemd weit geöffnet und die Stiefel vom eiligen Ritt voller Staub und Straßenschmutz. Er hatte gerade erst Benni sein Pferd übergeben, und ein Blick in sein ernstes Gesicht machte Fragen beinahe überflüssig.
Niemand hatte Simon und Muto oder auch nur einen von beiden gesehen, berichtete er. Sie waren nie beim Gestüt angekommen. Auch die Wachen am Steintor, die ihn bei seiner Rückkehr lange nach Toresschluß nur gegen eine deftige Gebühr überhaupt wieder in die Stadt gelassen hatten, konnten sich nicht an die beiden erinnern. Hunderte gingen jeden Tag durch das Tor, zwei Jungen fielen da nicht auf, selbst wenn einer rostrote Haare hatte. Brooks sei schon unterwegs zum Rektor und zu den Komödianten, um die Nachricht, die ja eigentlich keine sei, zu überbringen. Er werde auch im Kaiserhof Bescheid geben. Mehr könne man heute nacht nicht tun.
Alle im Hause Herrmanns waren müde, aber Claes und Anne, Augusta, Christian und Niklas saßen noch lange im Salon. In der Küche hockten Elsbeth, Blohm, Brooks und Betty vor dem leise glimmenden Feuer, obwohl die Nacht so mild war. Im Salon wie in der Küche stand eine große Kanne Schokolade auf dem Tisch, Augusta holte den Rosmarinbranntwein aus ihrer Vitrine, und alle hofften, daß es doch noch an die Tür pochen würde. Sie hofften vergeblich. Simon und Muto blieben verschwunden.
Schließlich gingen doch alle zu Bett. Müde vom Warten und Abwägen der Begebenheiten, vom Debattieren der Verdächtigen für den Mord an Donner, der Möglichkeiten, wer den Jungen aus welchen Gründen etwas angetan haben konnte (Letzteres sehr leise, und erst nachdem Niklas auf der gepolsterten Bank beim Kachelofen eingeschlafen war). Auch Claes schlief ganz gegen seine Erwartung bald ein. Dabei hatte er noch in Ruhe und ohne das Gegenüber der besorgten Gesichter nachdenken wollen. Sein letzter wacher Gedanke in dieser Nacht galt der Hoffnung, die Schwadron von Schutzengeln, die Simon vor vielen Jahren auf der Überfahrt von England nach Husum beschützt hatten, wachten auch in dieser Nacht über ihn. Und über Muto.
Auch Anne nahm einen unruhigen Gedanken mit in den Schlaf. Niemand wollte es wahrhaben, weil es die Sorge um die Jungen immer mehr wachsen ließ, dennoch waren in dieser Nacht alle sicher, daß es einen Zusammenhang zwischen Simons plötzlichem Verschwinden und dem Tod seines Onkels gab. Aber welchen? Irgend etwas hatten sie übersehen, dessen war sie ganz sicher. Irgend etwas. Es war da, hockte in einer dunklen Kammer ihres Kopfes, versteckte sich und wartete doch darauf, entdeckt zu werden. Irgend etwas scheinbar Belangloses. Es wollte ihr nicht einfallen.
DONNERSTAG, DEN 11. AUGUSTUS,
MORGENS
Es war genau so gewesen, wie Rosina erwartet hatte. Allerdings begann der Ärger schon, bevor sie den Salon der Domina erreichte. Das Tor zum Klosterhof war noch nicht verschlossen, wohl aber die Tür zur Stiftsdiele. Sie mußte lange klopfen, und gerade als in der Klosterschreiberei und den Witwenwohnungen neugierig die ersten Fenster geöffnet wurden, drehte sich knirschend der Schlüssel, und sie blickte in das grimmige Gesicht der Köchin.
Die Miene der Domina war kaum milder, allerdings raunte die Ehrwürdige Jungfrau ihr nach der nötigen Strafpredigt zu, sie habe sich ernsthafte Sorgen gemacht und erwarte als Entschädigung genaueste Auskunft. Die war rasch gegeben und Rosina zur Nachtruhe entlassen. Als sie die Wohnung der Domina verließ, war es in den langen Fluren des Stifts ruhig. Magda war weder zu sehen noch zu hören. So schlich Rosina, die Schuhe in der Hand, ins Obergeschoß hinauf und schob den Brief, der so viel Leid verursacht hatte, durch den schmalen Spalt unter Mademoiselle Nieburgs Zimmertür hindurch. Sie lauschte noch einen Moment, hörte einen kleinen erschreckten Schrei, dann das Huschen nackter Füße und schlich hinauf in ihre Kammer unter dem Dach, sicher, daß Mademoiselle Nieburg heute nacht, den Brief unter ihrem Kopfkissen, wieder besser schlafen konnte.
Rosina schlief wenig in dieser
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