Die zerbrochene Uhr
arm noch knauserig sein und mußte entsprechend hofiert werden.
Madame Horstedt interessierte sich nicht im geringsten für den Austausch der Vorzüge und Nachteile verschiedener Weine aus Frankreich und aus dem Rheintal, sie entdeckte den Rektor mit seinen beiden Begleitern, kaum daß sie die Tür geöffnet hatten. Rasch erhob sie sich und eilte ihnen mit einer für ihre Körperfülle erstaunlichen Behendigkeit entgegen, daß ihre Röcke aus trauerschwarzem Taft nur so rauschten.
»Simon?« rief sie und reckte den Hals, um an den Männern vorbeizusehen. »Wo ist er? Noch in der Diele? Simon!«
Sie sah in die Gesichter, und die Freude der Erwartung in ihren Augen erlosch. »Wo ist er?« fragte sie noch einmal. Dieses Mal klang es nicht heiter, sondern fordernd. »Warum bringt Ihr mir meinen Sohn nicht?«
»Madame«, Claes Herrmanns ergriff ihre Hand, beugte sich höflich darüber und hielt sie für einen Moment in seinen beiden Händen.
»Wo ist er?« rief sie, entzog sich ihm ungehalten und wandte sich dem Rektor zu, dem Mann, dem sie vor zwei Jahren ihr einziges Kind anvertraut hatte.
»Madame«, Müller hob beschwichtigend die Hände, »beunruhigt Euch nicht. Nur eine kleine Verzögerung. Alles wird sich aufklären! Er ist ausgegangen und noch nicht zurück. Monsieur Herrmanns«, eine flatternde Handbewegung stellte Claes vor, »Mitglied des Scholarchats und einer der angesehensten Bürger unserer Stadt, hat persönlich die Suche eingeleitet, ja, er hat seinen älteren Sohn und seine Leute beauftragt.« Es war wirklich nicht nötig, zu erwähnen, daß der größere Teil dieser Leute eine Gruppe von Wanderkomödianten war. »Niemand kennt die Stadt wie er, außer vielleicht«, gerade noch fiel ihm der Weddemeister ein, der höflich, den Dreispitz in der Hand, einen Schritt hinter ihm wartete, »außer Weddemeister Wagner natürlich, ein vorzüglicher Kenner aller Teile unserer Stadt, selbst der Vorstadt St. Georg und …«
»Ein Weddemeister?« Madame Horstedt wurde blaß.
»Ein Weddemeister?« wiederholte Monsieur Horstedt, der sich aus der äußerst anregenden Debatte mit dem Wirt gelöst hatte und neben seine Frau getreten war. »Was soll das heißen? Wozu brauchen wir die Wedde, wenn mein Sohn nur ein bißchen ausgegangen ist?«
Endlich übernahm Claes Herrmanns das Wort, ganz wie Wagner es vorausgesehen und Rektor Müller es gehofft hatte, und wenige Minuten später saßen alle fünf um den großen runden Tisch, der Wirt brachte drei weitere Gläser und vorsorglich einen zweiten Krug mit seinem zweitbesten Wein. Der Anlaß des Besuchs war offenbar nicht heiterer Natur, das war aber kein Grund, sich ein Geschäft durch die Lappen gehen zu lassen.
»Ich bin ganz sicher«, log Claes, während der Wirt den neuen Gästen einschenkte, »daß den beiden Jungen – auch ein anderer Freund Niklas’ ist noch nicht heimgekehrt – nichts geschehen ist. Wir wissen, daß sie heute nachmittag die Stadt verlassen haben und nach Wandsbek gegangen sind, um dort meinen jüngeren Sohn zu treffen. Niklas ist gut mit Simon befreundet.«
Madame Horstedt nickte. Simon hatte ihr von Niklas Herrmanns und dessen vornehmer Familie geschrieben.
»Monsieur Müller ist wirklich kein Vorwurf zu machen. Euer Sohn ist kein Kind mehr und der Weg nach Wandsbek leicht zu finden, immer nur die Straße nach Lübeck entlang. Das ist völlig ungefährlich. Mein Sohn ist jünger als der Eure, und er reitet häufig ganz allein hinaus. Simon leidet sehr unter dem Tod seines Onkels und hatte seither kaum sein Zimmer verlassen. Wie Monsieur Müller halte ich es für ein gutes Zeichen, daß er sich auf den Weg gemacht hat, einen Freund zu treffen und eine gute Strecke durch den schönen Sommertag zu wandern.«
»Gutes Zeichen hin und her«, Monsieur Horstedt war nicht im mindesten bereit, sich so einfach beruhigen zu lassen, »es ist seit mehr als einer Stunde dunkel, und der Junge ist nicht zurück. Wer ist überhaupt dieser zweite, der mit ihm verschwunden ist?«
Diese Frage hatte Müller befürchtet, aber Claes Herrmanns ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
»Auch ein Freund von Niklas, ein ruhiger, zuverlässiger Junge. Die beiden kennen sich durch meinen Sohn, auch ich kenne ihn seit einigen Jahren und vertraue ihm völlig. Sollte den beiden wirklich etwas zugestoßen sein, was aber gewiß nicht anzunehmen ist, hat Simon mit Muto den besten Begleiter, den man sich denken kann.«
Bevor Monsieur Horstedt fragen konnte, was denn
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