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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sie auf ihn verzichten.
    Anne beschirmte ihre Augen mit der Hand und blinzelte zum Himmel hinauf. Obwohl er bedeckt war, blendete das diffuse Licht. In der engen Stadt war es schon am frühen Morgen schwül gewesen, aber auch hier vor den Wällen, in dem grünen Land mit seinen weit verstreut liegenden einsamen Höfen und kleinen Dörfern, der weiten Alster und den vielen Bächen und Teichen, war es kaum besser. Es würde aber wohl doch nicht regnen, jedenfalls nicht heute oder morgen. Sie versuchte daran zu denken, wie gut der Regen ihrem Garten tun würde. Das Grasland, sonst von der nahen Alster stets zu feucht, begann an den höher gelegenen Stellen und außerhalb des Schattens der Bäume schon matt zu werden. Sie versuchte auch, an die Tomaten zu denken, die trotz etlicher geheimnisvoller Versuche Kampes unverändert an einer nicht minder geheimnisvollen Krankheit litten. Vielleicht war es einfach nur falsch, exotische Gewächse eines anderen Kontinents in einen Garten im nördlichen Europa zu verpflanzen. Wahrscheinlich kränkelten sie aus Heimweh.
    Zwischen den Stämmen der Bäume, einige waren erst im letzten und vorletzten Jahr gesetzt worden und noch recht schlank, schimmerte der See. Die Dächer und der Kirchturm der Vorstadt St. Georg am jenseitigen Ufer zeigten sich nur als Schemen hinter dem Dunst. Zwei Kähne glitten gemächlich alsterabwärts auf die Lombardsbrücke zu, ihre schwere Ladung, Kalk aus Segeberg unterwegs zu den Kalköfen nahe der Binnenalster, drückte sie tief ins Wasser. Von St. Georg näherte sich ein Ruderboot, noch war es nicht viel mehr als ein schaukelnder dunkler Fleck, sonst lag die Alster in für einen ganz normalen Vormittag ungewöhnlicher Stille.
    Anne nahm energisch die leichte Haube ab, löste das Brusttuch und ließ beides ins Gras fallen. Grübeln und Melancholisieren hatten ihr noch nie weitergeholfen, und davon, daß sie tatenlos herumstand, kamen Simon und Muto nicht schneller zurück. Wenn die Gärtner auch schon alle notwendige Gartenarbeit getan hatten, so konnte sie doch zu dem Stück Land hinter der Remise gehen, auf dem ein großer Gemüsegarten entstehen sollte, und neue Pläne für die Aufteilung der Beete machen. Das war in den letzten Wochen zwar schon zweimal geschehen, und eigentlich sollte sie es Elsbeth überlassen, die Köchin wußte schließlich am besten, wieviel Raum für welche Gemüse vorgesehen werden mußte, aber sie mußte jetzt etwas tun. Der Platz für das zweite Glashaus, von Kampe beharrlich als Orangerie bezeichnet, war noch zu inspizieren. Die Fundamente standen schon, aber wenn sie es recht bedachte, reichte die Fläche kaum für ihre Pläne aus. Am besten, sie schritt gleich den Raum für ein drittes ab.
    Das Frühstück war an diesem Morgen in bedrückter Stimmung verlaufen. Niemand hatte in der Nacht an die große Vordertür geklopft, niemand eine Botschaft gebracht. Claes hatte gleich den Pferdejungen zu Rektor Müller und zum Haus der Krögerin geschickt, doch auch die Komödianten und der Rektor wußten keine Neuigkeiten.
    So gingen alle an ihre Arbeit. Claes und Christian verschwanden im Kontor. Niklas konnte mit einiger Mühe und dem Versprechen, sofort Nachricht zu schicken, wenn Simon und Muto auftauchten, überredet werden, zu seinem Privatlehrer zu gehen, Augusta hatte beschlossen, trotz der frühen Stunde und ohne Einladung Mette van Dorting zu besuchen – plötzlich waren alle fort. Anne stand allein in der dröhnenden Stille des Hauses und beschloß, sich in ihrem Garten Beschäftigung zu suchen. Sinnvolle Beschäftigung. Soweit es sinnvoll sein konnte, sich um das Anlegen eines Gemüsegartens zu kümmern, obwohl das schon eine Köchin und drei Gärtner taten.
    Sie hob den Kopf und lauschte. Es war gar nicht so totenstill, wie sie es empfunden hatte. Der Garten wurde nicht gerade von einem Vogelkonzert erfüllt, aber auf einem der unteren Äste einer jungen Blutbuche landete mit kurzen »Zick-zick«-Rufen ein Rotkehlchen und begann sein Lied, eine tanzende Melodie aus hohem, klarem Flöten, immer wieder unterbrochen von kurzen auf- und absteigenden Trillern. Als habe es einen besonders schönen Flug über die üppige Spätsommerlandschaft zu bejubeln. Vielleicht hatte es auch nur einen besonders fetten Wurm erwischt.
    Da waren auch Ruderschläge, ganz nah. Wieder blinzelte sie durch die Büsche und Bäume zur Alster, und bevor sie darüber nachdachte, begannen ihre Beine schon zu laufen. Der Fährmann, den sie vorhin über

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