Die zerbrochene Uhr
Nacht. Wirre Traumfetzen weckten sie immer wieder auf, schwarze Bilder der Jungen, verfolgt von übergroßen Schatten, vermischten sich mit den Bildern von dem Mädchen, das vor vielen Jahren durchnäßt und schmutzig, zitternd vor Hunger und Angst aus einer Hecke an der Landstraße bei Leipzig gezerrt und auf ein Pferd gesetzt wurde. Sie kannte Simon nicht, aber Muto liebte sie wie einen Bruder, und es war ihr unerträglich, nichts tun zu können, um ihn zu finden. Nichts tun zu können, als zu warten. Schließlich schlief sie doch ein, aber sie erwachte schon im allerersten Morgengrauen, plötzlich hellwach, und wußte, daß sie es nicht aushalten würde, auch nur eine Minute länger unter ihrer Decke zu liegen und zu warten. Sie hatte überhaupt keine Lust, noch einmal Magda in die Arme zu laufen, aber es war ja noch früh. Die Köchin würde, wie alle anderen im Klosterstift, noch schlafen.
Schnell schlüpfte sie in ihre Kleider, empfand jedes Knarren der alten Holzbohlen unter ihren Füßen wie einen Paukenschlag, doch auch wenn sie immer wieder verharrte und lauschte, hörte sie nichts als die ersten Töne eines schläfrigen Vogels im Garten der Domina hinter dem Fleet. Grauer Schimmer kroch zaghaft durch das Fenster und kündete den heraufziehenden Morgen an. Es war genau die richtige Zeit.
Ein Windhauch empfing sie kühl, als sie durch den Holzraum der Küche in den Gang zum Lagerkeller schlüpfte. Irgendwo mußte eine Tür offenstehen. Sie fröstelte, doch sie spürte keine Angst. Wenn es stimmte, was sie vermutete, wen sie hier vermutete, gab es keinen Grund zur Angst. Geräuschlos glitt sie durch den Gang bis zu den Holzgestellen und drückte sich schmal an deren Schatten. Es war stockfinster, aber vielleicht brachte der Kellergeist, der gewiß nicht der heilige Dominicus war, eine Kerze oder eine Laterne mit. Immer noch war es totenstill, ihre nackten Füße begannen auf dem kalten Lehmboden zu erstarren, irgendwo knisterte eine Maus, und dann hörte sie es. Leise, fast unhörbar kamen Schritte näher, eilig und leicht, nicht die Schritte eines schweren Mannes. Dann bog ein Schemen um die Ecke vom Holzgang in den Lagerraum, nur ein verschwommenes Grau in der Finsternis, blieb stehen, zögerte wie ein Tier, das die Witterung des Jägers aufnimmt, verharrte, kam noch einen Schritt näher, helle Arme schoben sich flink wie Tentakeln aus dem Schemen und griffen in die Regale. Da war Rosina schon vorgesprungen, umklammerte eisern die dünnen Handgelenke des Mädchens, die Schürze fiel herunter und mit ihr alles, was darin gelegen hatte. Tomaten, Pfirsiche und Reineclauden aus den Klostergärten, Rosinen, Mandeln und Orangen von einem spanischen Schiff, ein kleines Fläschchen Öl von schwarzen Oliven zerbrach auf dem gestampften Boden. Das Mädchen tat einen winzigen spitzen Schrei, irgendwo fiel dumpf eine schwere Tür ins Schloß, dann war es wieder still. Da war nun kein Windhauch mehr. Kein Atem keuchte, keine Füße stampften auf. Karla, die Magd des Pedells, kämpfte nicht. Sie ergab sich einfach in den festen Griff um ihre Handgelenke und ließ sich willig, als habe sie nichts anderes erwartet, durch die Klosterküche und die Treppen hinauf in die Wohnung der Domina führen.
VORMITTAGS
Der Springbrunnen plätscherte munter. Zugegeben, nicht ganz so munter wie vor zwei Wochen, aber immerhin. Kampe hatte sein Bestes gegeben, doch er war Gärtner, kein Meister der Springbrunnen. Wenn diese ganze schreckliche Angelegenheit vorbei war, dachte Anne, würde sie nach dem Glückstädter schicken, der den Brunnen eingerichtet hatte. Er war der beste, und daß er so weit entfernt elbabwärts lebte, war unbequem, aber nicht zu ändern.
Wahrscheinlich würde der Brunnen sowieso bald versiegen. Der Garten ihrer Familie in St. Aubin wand sich einen steilen Hang hinauf, und der Springbrunnen dort wurde von einem der zahlreichen Wasserläufe gespeist, die von der Höhe zur Bucht hinabplätscherten. Der Herrmannssche Garten in Harvestehude lag inmitten der im Vergleich zu den Klippen von Jersey nur wenig abfallenden Alsterwiesen, und auch wenn der Springbrunnen aus einem großen Bassin auf dem höchsten Punkt beim Mittleren Weg gespeist wurde, hatte er nicht annähernd so viel Kraft. Zudem waren die letzten Wochen trocken gewesen, und bevor die Gärtner ihre Tage damit verbrachten, immer wieder Wasser von der Alster zum Bassin hinaufzuschleppen, nur damit es vor der Terrasse hübsch plätscherte, würde
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