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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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wie stets um diese Tageszeit, aber ihre laute Stimme, gewiß auch ihr zerrupftes Aussehen und Simons blutiges, leichenblasses Gesicht, ließen zumindest die kleineren Karren und das Fußvolk bereitwillig Platz machen. Vor ihrer Kutsche stand nun nur noch ein vierspänniger hochbepackter Wagen. Zum Glück war er schon kontrolliert, und der Fuhrmann stritt sich lediglich noch mit den Wachen herum, bis sie sich über die zu zahlende Akzise einig waren. Tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, aber jede erschien ihr wie eine Stunde. Ihr Körper war hart und angespannt wie eine Sehne aus Stahl. Nicht nur weil sie die Jungen so schnell wie möglich in Sicherheit bringen und mit Decken, Essen und Trinken versorgen wollte, sie mußte endlich wissen, was ihnen geschehen war. Aber Simon sprach nicht, und Mutos Sprache verstand sie heute weniger denn je. Nur, daß es ein Reiter gewesen war, der sie überfallen, der auf Simon eingeschlagen hatte, war klargewesen, nur einer, nicht eine Bande.
    Einen Moment lang glaubte sie, daß irgendein Zufall Rosina hinter der anderen Seite des Tores auf sie warten ließ, Rosina konnte Mutos Sprache verstehen, aber natürlich würde sie nicht da sein.
    Sie zwang sich zur Ruhe, und auch wenn das nicht viel nutzte, so erreichten die Rufe und Gespräche der Leute um sie herum nun doch wieder ihr Ohr. Auch spürte sie jetzt die neugierigen und argwöhnischen Blicke, aber sie sprachen dennoch nicht über sie. Sie sprachen über den Preis für ihre Gänse, über den Grafen Schimmelmann, den neuen Herrn auf Schloß Wandsbek, oder über eine sterbende Wöchnerin. Einer schimpfte über die beständig steigenden Mietzinse, woran nur die vielen Fremden in der Stadt schuld seien. Kämen von überall her, bettelten in den Straßen, obwohl das verboten sei, machten sich auf Kosten der alteingesessenen Bürger ein feines Leben. Faules Pack allesamt. Auf den Einwand seines Begleiters, ob nicht eher die Besitzer der Häuser und Buden schuld an der Teuerung seien, die neue Sitte, Familien aus ihren Wohnungen auf die Straße zu setzen, Hunderte sollten es in diesem Jahr schon sein, um die Häuser als Speicher zu nutzen, ging er nicht ein. So viele Fremde, fuhr er ungerührt fort, das sei einfach nicht gut. Die Stadt sei eng geworden, der Mangel an Wohnungen und Arbeit auch ohne sie groß.
    Auf die letzten Sätze hörte Anne nicht mehr. Die Mietzinse, dachte sie. Die Mietzinse? Da war wieder dieses Irgendetwas, das sie vergessen hatte und ihr nicht einfallen wollte, etwas, das zu Simons Verschwinden und Adam Donners Tod gehören mußte. Mietzinse. Was konnte das mit alldem zu tun haben?
    Gerade da winkte der Wächter sie durchs Tor, er hatte Madame Herrmanns, die alle Tage hinaus in ihren Garten fuhr, erkannt. Hinter dem Dammtor hielt sie noch einmal und fragte einen der Wächter nach zwei zuverlässigen Boten. So rannten gleich darauf zwei Jungen durch die Stadt, einer zu Dr. Reimarus und zum Krögerschen Haus, der andere zur Wohnung des Rektors und zu den Horstedts im Kaiserhof.
    Anne nahm nicht den direkten Weg zum Neuen Wandrahm. Das Gewimmel in den engen Straßen der Stadt würde sie viel zu lange aufhalten. Sie lenkte das Pferd nach Osten auf den Wall, kutschierte über die Lombardsbrücke und vorbei an den nördlichen und östlichen Bastionen. Als sie am Steintor vorbeirollte, wehte der Wind die Schläge der Kirchturmuhr von St. Jakobi herüber. Der achteckige Turm reckte seine kupfergrüne Spitze hoch über die roten Dächer. Obwohl es längst nach elf Uhr sein mußte, standen die Zeiger auf Viertel vor fünf. Die Uhr mußte kaputt sein. Da war es wieder. Dieses Drängen, sich an etwas erinnern zu müssen. Woran? Warum war es ihr bei der Klage über die Mieten eingefallen? Warum fühlte sie es jetzt bei dem Blick auf die falschgehende oder stehengebliebene Uhr?
    Als sie den Bauhof passierte, fiel es ihr ein. Vor vielen, sogar sehr vielen Jahren hatte es in einigen ländlichen Regionen Englands Unruhen wegen irgendwelcher Probleme mit den Mieten gegeben. Was war die Ursache gewesen? Was konnte das nur mit Simon zu tun haben?
    Das Pferd ging jetzt langsam über die hölzerne Brücke hinüber zur Wandrahminsel, und Anne drehte sich nach den Jungen um. Simon lehnte immer noch blaß an Mutos Schulter, aber seine Augen waren geöffnet, und er versuchte sogar zu lächeln.
     
     
    VORMITTAGS
     
    Justus Gulp war ganz im Gegensatz zur Ansicht seines Herrn, Professor Wolf, ein diensteifriger junger Mann. Das

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