Die zerbrochene Uhr
Gott, Melusine …« Claes Herrmanns riß die Tür auf und stolperte fast über Grabbe. Der stand direkt dahinter, mit dem Rücken und den ausgebreiteten Armen zur nun weitgeöffneten Tür, als müsse er sie verteidigen. Was er tatsächlich mußte, denn vor ihm stand, den pfirsichfarbenen Sonnenschirm einem gezogenen Degen gleich in der kleinen Faust, ein zierliches, nicht mehr ganz junges Fräulein mit feldmausbraunem Haar in einem Kleid aus braunrotem, mattgeblümtem Damast. Nur die an ihren Ohren zitternden winzigen Ohrringe aus Granat und noch winzigeren Perlen verrieten Angst, sonst war sie nichts als Entschlossenheit.
»Monsieur!« rief sie und schubste den verdutzten Grabbe beiseite. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber ich verlange , sofort den Weddemeister zu sprechen. Er hat einen unschuldigen Mann arretiert, und ich« – in diesem Moment entdeckte sie hinter Claes’ Rücken Melchior Bucher, ihre Augen blinzelten heftig und ihre Lippen begannen zu zittern, aber nur für einen kleinen Moment, »ich verlange, gehört zu werden. Sofort.«
Sie schwieg und sah Claes an, als sei er ein am Tage wandelnder Werwolf, dem sie endgültig den Garaus zu machen gedenke. Er hätte sich gerne vorgestellt, so wie es die Höflichkeit selbst an einem so unerfreulichen Ort wie der Fronerei erforderte, aber da war Wagner schon neben ihm. »Ich bin der Weddemeister, Mademoiselle«, sagte der mit amtlicher Strenge, »ich wäre Euch verbunden, wenn Ihr Monsieur Herrmanns nicht behelligen würdet …«
»Das habe ich nicht vor«, fiel ihm Mademoiselle Nieburg gleich ins Wort, »ich verlange nur, Euch zu sprechen, Weddemeister, und angehört zu werden. Oder seid Ihr etwa auch nicht der Weddemeister? Ich bin Melusine Nieburg und habe eine wichtige Aussage zu machen. Monsieur Bucher, ich sehe, daß er hier ist«, sie zeigte mit ihrem Schirm in das hintere Zimmer und verfehlte dabei nur knapp Claes’ Ohr, »er ist hier, nicht zu Recht, das werde ich bezeugen. Sofort. Ich werde nicht wieder gehen, ich werde …«
»Bitte, Mademoiselle!« Claes hob beschwichtigend die Hände, ein Hauch von Mademoiselle Nieburgs Parfüm erreichte seine Nase und erinnerte ihn seltsamerweise an Augustas Rosmarinbranntwein. »Wenn Ihr etwas zu sagen habt, werden wir Euch zuhören, mit Vergnügen. Doch dies ist ganz gewiß nicht der richtige Ort. Wenn Ihr erlaubt, werden wir eine spätere Verabredung treffen, an einem für eine Dame schicklicheren Ort.«
»Hier geht es nicht um Schicklichkeit, Monsieur, sondern um die Wahrheit. Ich weiß die Wahrheit, und wenn Monsieur Bucher zu ehrenhaft ist, sie zu sagen, so werde ich es tun. Monsieur Bucher und ich«, sagte sie und reckte sich, so daß ihr Scheitel fast bis an Claes’ Schulter reichte, »haben keine Schuld auf uns geladen. Keine! Abgesehen von meiner einfältigen Kleinmütigkeit. Und nun, wenn ich bitten darf, soll man mir einen Stuhl anbieten, damit ich mich setzen und diesen dummen Irrtum endlich beenden kann!«
Der dumme Irrtum, wie sie es nannte, war schnell geklärt. Ja, Monsieur Bucher hatte die Bibliothek am Tag des Todes von Adam Donner um elf verlassen. Aber nicht, um spazierenzugehen, sondern um sie, Melusine Nieburg, zu treffen, im Domgarten, weit vom Johanneum entfernt. Da war gewöhnlich um diese Zeit niemand, den sie kannten. Sie hatte ihn dort getroffen, warum, tue nichts zur Sache und gehe niemanden etwas an. Er war erst wenige Minuten, bevor die Glocke des Domes eins geschlagen hatte, davongeeilt, ohne jeden Zweifel war er an diesem Tag nicht zu früh, sondern zu spät im Johanneum angekommen.
»Er hatte auf keinen, auf gar keinen Fall, Gelegenheit, Monsieur Donner zu töten. Das werde ich jederzeit und auf die Heilige Schrift schwören, und ich bin als eine gottesfürchtige Frau bekannt. Niemand soll es wagen, einer Nieburg nicht zu glauben.«
Das wagte tatsächlich niemand. Außer Wagner. Doch dem bestätigte später – leider – der Domgärtner, die kleine Mademoiselle Nieburg und der Monsieur seien oft im Domgarten und dächten, daß sie keiner sähe. Täte wohl auch keiner, außer ihm. Ja, auch zur gegebenen Zeit habe er sie gesehen, das wisse er ganz genau, denn das sei ja der Tag gewesen, an dem jemand diesen Lehrer erstochen habe.
Melusine Nieburg war eben doch mehr als ein nettes Veilchen. Sie war eine stolze Rose, bei Gelegenheit sogar eine mit veritablen Dornen. Sie hatte es nur allzu viele Jahre lang nicht bemerkt.
Als Rosina den Neuen Wandrahm erreichte,
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