Die zerbrochene Uhr
verließen Monsieur Horstedt und Rektor Müller gerade in großer Eintracht das Herrmannssche Haus, unterwegs zur Wohnung Adam Donners, um dessen Nachlaß in Augenschein zu nehmen. Vom untätigen Herumsitzen wurde Simon auch nicht schneller gesund. Nachdem sie Muto vor Glück über seine Rettung endlich genug umarmt und durchs Haar gestrubbelt hatte, was der mit aller Nachsicht eines Fünfzehnjährigen für unpassende weibliche Gefühlsausbrüche über sich ergehen ließ, versuchte sie herauszubekommen, was er gesehen hatte.
Es war nicht viel. Ein kräftiger Mann, groß, aber nicht sehr groß, mit braunem Haar, dunklen Augen und vollen Lippen. Am schwierigsten war Mutos letzte Auskunft zu verstehen. Doch schließlich gelang auch das. Der Mann hatte geflucht, als er ihn das erste Mal ansprang, und zwar auf französisch. Ob er sich nicht irre? Vielleicht eher italienisch? Oder holländisch? Nein, französisch. Ohne jeden Zweifel.
»Also doch der Uhrmacher?« rief Anne, die dem Schauspiel mit wachsender Demut zugesehen hatte. Sie hatte sich für diese Minuten selbst wie eine Stumme gefühlt. Mutos Möglichkeiten, sich auszudrücken, waren viel größer und zahlreicher, als sie sich je vorgestellt hatte. Man mußte sich nur die Mühe machen, ihn ernsthaft zu beachten.
»Der Uhrmacher, das ist möglich«, sagte Rosina. »Wagner war immer der Ansicht, er habe mit Donners Tod zu tun und einen Komplizen. Er hat mir Godard neulich gezeigt, die Beschreibung paßt tatsächlich gut. Aber das sind viele, auf die sie paßt, und französische Flüche gibt es in dieser Stadt wie Sperlinge im Garten der Domina.«
Die Beratung dauerte nicht lange. Es gab – zum Glück – auch nicht viele, die mitberieten. Christian war an der Börse, einer mußte sich ja um die Geschäfte kümmern, und Niklas konnte mit viel Mühe wieder überredet werden, zu seinem Privatlehrer zu gehen, für den nun die übliche Zeit war. Augusta hatte plötzlich beschlossen, Madame van Witten zu besuchen. Im Herrmannsschen Salon saßen nur noch Anne und Regina Horstedt. Die war erst bereit gewesen, von Simons Bett zu weichen, als Elsbeth ihren Platz einnahm und der Duft des Kaffees unwiderstehlich wurde. Ihr stets um ihr Wohl besorgter Gatte, ein entschiedener Gegner leichtfertigen Gebrauchs von Drogen jeder Art, hatte ja günstigerweise gerade das Haus verlassen.
»Am besten ist es«, entschied Rosina schließlich, »wenn ich mit Muto zur Godardschen Werkstatt gehe. Mit ein bißchen Glück können wir einen Blick durch die Fenster werfen, ohne entdeckt zu werden. Der vordere Raum ist recht hell, vielleicht kann Muto ihn sehen und erkennen. Oder er erkennt ihn eben nicht, dann wissen wir mehr und können neu überlegen.«
So verließen auch Rosina und Muto – allerdings erst nach den heftigsten Beteuerungen, die Werkstatt auf keinen Fall zu betreten und sich auch sonst auf keinerlei Leichtfertigkeiten einzulassen – das Haus. Anne sah ihnen vom Fenster des Salons nach. In ihrem Kopf hatte es wieder begonnen, dieses beunruhigende Drängen, sich zu erinnern. Woran nur?
Vor Godards Werkstatt herrschte wie auf dem ganzen Berg das übliche mittägliche Gedränge. Um so besser, das würde es leichter machen, neugierig durch die Fenster zu sehen, als gehörten sie nur zu denen, die zufällig vorbeikommen und eben durch Fenster sehen, hinter denen sich kostbare Waren verbergen. Dummerweise stand genau vor diesen ein junger Mann auf einem Hocker, gewiß der Gehilfe des Uhrmachers, von dem Wagner erzählt hatte, und putzte die Scheiben. Rosina fand, ungeduldig wie immer, nun bleibe nur noch eine direkte Frage.
Er bedauere, antwortete Jerôme und stieg beflissen von seinem wackelnden Schemel, nein, Monsieur Godard sei nicht zugegen. Gewiß könne auch er helfen, wenn die Mademoiselle ihm in den Laden folgen wolle.
Sie bedauere auch sehr, Rosina bemühte sich, ein wenig zu erröten oder zumindest so auszusehen, sehr bedauere sie, aber das dürfe sie leider nicht. Gewiß sei Monsieur schon unterwegs zu ihrer Herrschaft, der Godeffroyschen Weinhandlung. Sie habe nur fragen wollen, ob er heute wie bestellt komme.
O nein, Monsieur Godard sei ins Gasthaus Zum Weißen Einhorn gerufen worden, er sei gerade erst aufgebrochen. Die große Standuhr in der Diele stehe still. Wie ein Ochse vorm Tor. Leider. Und das, wo doch die Postkutsche nach Bremen und Amsterdam direkt vor der Tür abfahre und die Gäste und Reisenden immer die genaue Zeit wissen wollten. Monsieur
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