Die zerbrochene Uhr
Godard warte die Uhr schon lange und habe schon vor Wochen daraufhingewiesen, daß sie dringlich von Grund auf überholt werden müsse, die Feder müsse erneuert werden, sie sei völlig erlahmt, ganz und gar ohne Spannung, aber der Wirt …
Verblüfft sah er der jungen Frau und dem rothaarigen Jungen nach, die schon über den Berg davoneilten. Allerdings nicht in die Richtung der Godeffroyschen Weinhandlung.
Es war nicht weit bis zum Weißen Einhorn in der Steinstraße. Nur über den Berg, durch den Speersort, und an dessen Ende begann schon die lange Straße, die durch das Steintor direkt aus der Stadt nach Osten führte. Sie entdeckten Pierre Godard in der Menge, als er nur noch wenige Schritte von dem Gasthaus entfernt war. Er ging eilig, und er trug eine Tasche, die viel zu groß und schwer schien, um nur das Werkzeug eines Uhrmachers zu bergen. Aus dem Gasthaus traten zwei Männer, beschirmten die Augen gegen die Sonne und sahen ungeduldig die Straße zum Steintor hinunter. Die Kutsche hatte offenbar Verspätung. Auch ein paar barfüßige Kinder und Männer drückten sich dort herum, warteten auch auf die Postkutsche und hofften, an einem Dienst für die Reisenden eine kleine Münze zu verdienen.
Rosina und Muto hatten Godard nun fast eingeholt. Er blieb vor dem schmalen Durchgang stehen, der neben dem Gasthaus in die stinkenden Hinterhöfe und Gänge führte, in denen Tausende ein Dasein fristeten, das vom Leben in den Vorderhäusern entfernt war wie ein fremder Kontinent. Bevor er sich umsehen und sie entdecken konnte, schob Rosina Muto schnell hinter ihren Rücken, was nicht viel nützte, er war schon fast so groß wie sie.
»Erkennst du ihn, Muto?« flüsterte sie. »Ist das der Reiter aus dem Erlenwald?«
Sie drehte sich fragend nach ihm um. Muto sah über ihre Schulter, starrte mit zusammengekniffenen Augen geradeaus, sein Kinn reckte sich aufgeregt vor, seine rechte Hand schnellte hoch, versteckte sich aus Sorge vor Entdeckung wieder halb hinter ihrem Rücken. Rosina verstand ihn gleich. Dort stand der Mann, der Simon töten wollte. Rosina betete, daß er sie nicht entdecken würde, bevor es ihr gelang, einen Boten zu Wagner in die Fronerei zu schicken.
Madame Horstedt hatte nun schon die dritte Tasse Kaffee getrunken, mit viel Mandelmilch verrührt, aber immerhin, als Claes zum Neuen Wandrahm zurückkehrte. Er gab sofort die Geschichte von dem unerhörten Auftritt Mademoiselle Nieburgs zum besten, und sicher lag es an dem Kaffee, daß Madame Horstedt in Tränen der Rührung über diesen Beweis von Treue ausbrach. Vielleicht aber auch an ihrer Erleichterung darüber, daß ihr Bruder nicht auch noch von einem Kollegen getötet worden war, was seinen Berufsstand in ein noch düstereres Licht gestellt hätte.
Erst als Claes auch von der umgehenden Freilassung des Lehrers und der stolzen Haltung Mademoiselle Nieburgs berichtet hatte, mit der sie am Arm Melchior Buchers vor aller Augen über den Berg davongeschritten war, fiel ihm ein zu fragen, ob Rosina inzwischen eingetroffen sei und Muto mehr wisse als Simon.
Die Nachricht, die beiden seien zur Godardschen Werkstatt gegangen und schon fast eine Stunde fort, ließ ihn sofort aufspringen und nach Brooks schicken. Wenig später hatte der Stallmeister den Fuchs gesattelt, und Claes Herrmanns war auf dem Weg zum Berg.
Wieder stand Anne am Fenster, wieder sah sie jemandem nach, der in Eile das Haus verließ. Sie beobachtete, wie er sein Pferd geschickt um einen Karren herumlenkte, der hoch mit Hausrat beladen war. Ein paar barfüßige Kinder in abgerissenen Kleidern schoben ihn, während ein Mann und eine Frau vorne selbst in den Riemen lagen und die schwere Last zogen. Wieder eine dieser Familien, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, um Speichern Platz zu machen.
Die Mietzinse, dachte sie, da war etwas mit den Mietzinsen gewesen. In diesem Augenblick schlug die Uhr auf der Kommode, sie hörte das Klingen der kleinen Glocke, begann wie stets und ohne darüber nachzudenken, die Schläge zu zählen, und endlich fiel es ihr ein.
»Natürlich!« rief sie. »Wie konnte ich das vergessen? Der neue Kalender! Madame Horstedt«, aufgeregt griff sie mit beiden Händen nach deren Arm, »in welchem Jahr ist Simon geboren?«
»Aber das haben wir doch schon mehr als gründlich besprochen. Er ist 1752 geboren.«
»1752. Das stimmt. Natürlich. In welchem Monat? Und an welchem Tag?«
»Anno 1752. Im September. Am 14. September. Er war ein so süßes Kind
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