Die zerbrochene Uhr
…«
»Und der andere Junge? Paul, Simons Cousin?«
»Am 6. September, meine Liebe. Könntet Ihr bitte meinen Arm wieder freigeben? Er schmerzt schon ein wenig. Danke. Ja, am 6. September. Oder am 7., der liebe Asmund wird es genau wissen, wie immer. Aber warum fragt Ihr das jetzt? Ihr seid so erregt, der Kaffee ist vielleicht doch nicht bekömmlich.«
»Nicht der Kaffee, Madame.« Anne ließ sich schwer ausatmend in einen Sessel fallen. »Nicht der Kaffee ist schuld. Ich weiß zwar nicht, wer Euren Bruder getötet hat oder wer Simon töten wollte. Aber ich weiß jetzt endlich, warum. Und hofft mit mir, daß mein Mann Rosina und Muto findet, bevor sie Monsieur Godard oder wer immer für ihn arbeitet in die Hände fallen.«
Und dann erklärte sie Madame Horstedt, die sich alle Mühe gab, der aufgeregten Rede ihrer Gastgeberin zu folgen, das Rätsel hinter den Verbrechen.
Es war im Herbst anno 1752 gewesen, als viele arme Leute in den ländlichen Regionen Englands gegen ein neues Gesetz protestierten, durch das sie befürchteten, in diesem besonderen Jahr einen höheren Mietzins bezahlen zu müssen. Das neue Gesetz bestimmte die Einführung des Gregorianischen Kalenders, eine Zeitrechnung, die schon seit Jahrzehnten, in einigen Ländern gar seit fast zwei Jahrhunderten, in ganz Europa und seinen Kolonien üblich war. Nun wurde also endlich auch in England der alte Julianische Kalender durch den Gregorianischen abgelöst. Die alte Zeitrechnung war so ungenau gewesen, daß die neue an ihrem Beginn elf Tage einsparen mußte.
Die Unruhen wegen der vermeintlich zu erwartenden Mieterhöhungen hatten in den Salons der gebildeten Häuser (besonders in denen der Hausbesitzer) für viel Amüsement gesorgt. Denn tatsächlich wurde das Jahr nicht verlängert, sondern, wenn auch dies nur vermeintlich, verkürzt. Es wäre also höchstens um eine Kürzung des Mietzinses gegangen, die natürlich nicht stattfand. Aus Prinzip und weil das Jahr tatsächlich genauso viele Tage zählte wie immer.
In jenem Jahr 1752 mußten elf Tage auf dem Kalender gestrichen werden. Auf den 2. September folgte damals sofort der 14. Den Tag von Pauls Geburt, den 6. September, hatte es in jenem Jahr überhaupt nicht gegeben. Der Dorfpfarrer, der dieses Datum in das Kirchenbuch eingetragen hatte, mußte entweder sehr betrunken oder sehr uninformiert gewesen sein. Der 6. September war tatsächlich der 17. September.
»Das bedeutet«, schloß Anne triumphierend, »daß nicht Paul, sondern Simon der Erbe des alten Freundes seines Großvaters ist. Das bedeutet weiter, daß irgend jemand, der darauf spekulierte, von Pauls Erbe zu nutznießen, versucht hat, Simon umzubringen. Oder umbringen zu lassen. Wenn Simon nicht erben kann, erbt Paul. Ganz einfach.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich all diese Zahlen Verwirrung richtig verstanden habe«, sagte Madame Horstedt und rieb sich ihren immer noch schmerzend geröteten Unterarm. »Aber ich denke doch. Ich bin nicht so schlecht im Rechnen, wie der liebe Asmund gerne glaubt. Ich kann wirklich nicht sagen, daß mir das alles gefällt. Was soll der arme Junge nur mit einem solchen Reichtum anfangen? Aber da ist eine andere Frage, die mich nun noch mehr verwirrt. Warum hat jemand den lieben Adam getötet?«
»Aber du mußt gehen«, flüsterte Rosina aufgeregt. »Du mußt, wer sonst? Wagner kennt dich, er weiß, worum es geht, und wird dir gleich folgen.«
Aber Muto weigerte sich, zur Fronerei zu laufen. Er stand da wie angewachsen, starrte zum Eingang des Weißen Einhorns hinüber und schüttelte nur immer wieder den Kopf.
»Warum nicht? Mir kann hier nichts geschehen. Er kennt mich nicht. Wenn du bleibst, wird er dich sehen und wissen, daß du ihn erkannt hast. Er wird flüchten. Du mußt gehen, Muto.«
Der letzte Satz hatte vor Ärger laut geklungen, und sie drehte sich besorgt nach der Gasthaustür um. Aber da war niemand, der sie beachtete. Godard war mit seiner Tasche in dem Gasthaus verschwunden, auch die Männer, die nach der Kutsche Ausschau gehalten hatten, waren nicht mehr zu sehen. Nur der kleine ärmliche Haufen drückte sich noch an die Wand und wartete. Die Steinstraße, eine der breitesten der Stadt und schon seit Menschengedenken gepflastert, war nun nicht mehr ganz so belebt, aber immer noch zog ein langer Strom von Wagen und Karren auf ihr vom Steintor in die innere Stadt. Rosina wußte nicht, was sie tun sollte. Godard war schon vor einigen Minuten durch die Tür des Gasthauses getreten,
Weitere Kostenlose Bücher