Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
und obwohl sie sicher glaubte, daß er darin wie die anderen Reisenden auf die Postkutsche wartete, wuchs ihre Sorge, er könne durch einen hinteren Ausgang in den labyrinthischen Gängen verschwinden. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Mietstall am Schweinemarkt direkt vor dem Steintor. Wenn er einen Weg durch die Gänge dorthin fand, würde er entkommen.
    Sie verstand Muto nicht. Er starrte mit steinernem Gesicht an ihr vorbei und reagierte auch nicht mehr auf ihre Fragen. Irgend etwas stimmte hier nicht, und sosehr sie sich auch dagegen wehrte, wuchs ihr Groll auf seine Halsstarrigkeit. Und auf seine Stummheit, die ihr zum erstenmal wie eine Waffe erschien. Eine Waffe, die er gegen sie richtete. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, daß er nicht mehr das Kind war, das fröhlich herumsprang und jeden Dienst erledigte, ohne nach dem Warum zu fragen.
    Der schräge Klang eines Horns kündigte das Nahen der Postkutsche an. Sie konnte die Pferde schon sehen, den eckigen Aufbau der dunkelblauen Kabine, das auf dem Dach festgezurrte Gepäck.
    »Muto«, zischte sie zornig, »so beeil dich doch. Wenn er einsteigt, laufe ich hinterher. Bis zum Millerntor ist es weit, Wagner kann die Kutsche anhalten. Muto!!«
    Aber Muto hörte nicht. Die Kutsche kam näher, ihre Räder polterten über das Pflaster, und vom Klang des Horns angelockt traten die Reisenden aus dem Weißen Einhorn auf die Straße. Godard konnte Rosina unter ihnen nicht entdecken. Einer der Männer war groß, aber nicht sehr groß, er trug einen schweren Reisesack, und trotz der Wärme des Tages hatte er einen Umhang über seinen moorbraunen Rock gelegt. Die Kutsche war schon ganz nah, da sah der Mann sich um, und seine Augen weiteten sich im Erkennen. Aber er sah nicht Rosina an, sondern Muto. Der Reisesack rutschte ihm aus den Händen, und er begann zu laufen. Er stolperte über eines der Bettelkinder, sprang vorwärts, stolperte wieder, und da war Muto schon bei ihm. Rosina schrie auf, doch es war zu spät, die Kutsche war da, und Muto schnellte vor. Er gab Karl Mosbert einen kräftigen Stoß, brachte sich selbst mit einem Sprung in Sicherheit, und unter den entsetzten Schreien der Menschen auf der Straße kam die Kutsche zum Stehen.
    Sie zogen Karl Mosbert unter den Pferden hervor, und alle waren einig: Hätte dieser Junge mit dem roten Haar ihn nicht so entschlossen zur Seite gestoßen, wäre von den Hufen der Pferde nicht nur sein linkes Bein, sondern sein ganzer Körper zerschmettert worden.
    Aus allen Häusern kamen die Neugierigen, um nur nichts von dem blutigen Unfall vor dem Weißen Einhorn zu versäumen. Claes Herrmanns hatte große Mühe, sich durch die Menge zu drängen, bis er Rosina erreichte. Die hockte neben Muto im Schmutz der Straße, hielt ihn in den Armen und weinte immer noch. Ob von der ausgestandenen Angst um sein Leben oder vor Zorn über seinen Leichtsinn, hätte sie nicht zu sagen gewußt. Aber danach fragte auch niemand.
    Zwischen den Schaulustigen, die aus dem Gasthaus auf die Straße geeilt waren, stand auch Pierre Godard. Er trug das Gewicht der Standuhr, die in der Diele des Gasthauses Zum Weißen Einhorn ihren Dienst verweigert hatte, noch in der Hand. Er war der erste, der wieder an seine Arbeit ging, ein Uhrmacher und ein friedliebender Mensch. Gewalt war ihm von jeher zuwider, selbst wenn es nur darum ging, ihren Folgen zuzusehen.

13. KAPITEL
    SONNTAG, DEN 28. AUGUSTUS
     
    »Das Glücke kommt selten per Posta, zu Pferde, es geht zu Fuße, Schritt für Schritt …« Der Gesang der Stiftsdamen von St. Johannis klang hell durch den Spätsommertag und übertönte sogar das Getrappel der Hufe und das Rumpeln der Kutschen. Zu Anfang waren sie sich über die Tonhöhe nicht ganz einig gewesen, doch der volle Alt der Ehrwürdigen Jungfrau Domina hatte sofort und wie gewöhnlich die Führung übernommen, schon bei der dritten Zeile sangen die zehn Damen in melodischer Einigkeit. Die Demoiselles Nieburg und Meyerink hatten die zweite Stimme übernommen, und selbst wenn ihre zarten Töne nicht eindeutig zu hören waren, gaben sie dem Gesang doch eine delikate Tönung, die man auf einer schlichten Landpartie nicht unbedingt erwarten konnte. Nicht einmal auf einer, wie sie die Domina hin und wieder für ihre Konventualinnen und einige geladene Gäste in einem der Klostergärten ausrichten ließ. Normalerweise sangen sie nie, bevor sie ihr Ziel und die Abgeschlossenheit eines Gartens erreicht hatten, aber heute herrschte

Weitere Kostenlose Bücher