Die zerbrochene Uhr
eine besonders frohe Stimmung, und so wurde das erste Lied schon bald nach dem Dammtor angestimmt. »Geh aus mein Herz und suche Freud, in dieser schönen Sommerzeit«, was gut für einen Augustsonntag paßt, und mit seinen fünfzehn Strophen bis hinter Harvestehude reichte. Dort stimmte Mademoiselle Meyerink ›Grüß Gott du schöner Maien‹ an, was Mademoiselle Pollermann wegen der falschen Jahreszeit (vielleicht auch wegen Mademoiselle Meyerink, die sie heimlich für ein dummes, eitles Kaninchen hielt) nicht mitsang, aber allen anderen viel Vergnügen bereitete.
Heute rollten die Kutschen zur Eppendorfer Alstermühle, einem der zahlreichen Besitztümer von St. Johannis, deren Garten als besonders lieblich und üppig galt. Außerdem wollte Domina van Dorting diskret und ganz nebenbei dem Müller ins Gewissen reden, von dem man hörte, daß er sich seit einiger Zeit dem Branntwein und vor allem der dazugehörigen Wirtin intensiver als zulässig widmete.
Den drei Wagen des Klosters folgte der Herrmannssche Zweispänner. In dem saßen außer Anne und Claes auch die beiden Horstedts und Simon. Regina Horstedt sang trotz des etwas engen Mieders aus voller Brust das Lied vom Glück mit, das selten mit der Postkutsche kommt. Ihr lieber Asmund hatte ihr zwar gleich nach der ersten Zeile zugeflüstert, daß der Unfall vor dem Weißen Einhorn mit Gottes Hilfe wohl den Richtigen ereilt habe, dieses Lied in Anbetracht der Umstände dennoch recht pietätlos erscheine. Außerdem sei die Post darin nur als Symbol für Eile gemeint, und sie sei schließlich noch in Trauer. Was seine sonst so ergebene Gattin heute von Anfang bis Ende überhörte.
In einer ganzen Reihe von folgenden Wagen beobachteten die erstaunten Bauernkinder am Wegrand eine bunt zusammengewürfelte, vergnügte, um nicht zu sagen lärmende Gesellschaft. Das erstaunte um so mehr, als die Domina doch sonst keinen Lärm duldete.
Den Wagen folgten einige vornehm gekleidete Reiter, zu denen auch Niklas und Christian Herrmanns und Lorenz Bauer gehörten. Dessen Schwester Henny saß vergnügt ihren Eltern gegenüber in einer der Kutschen. Für Christian hatte sie allerdings auch heute nur ein höfliches Lächeln und nicht ein Wort zu dem Gedicht übriggehabt, das er ihr kürzlich verehrt hatte. Womöglich lag es an den nicht allzu elegant gereimten Versen, aber vielleicht hätte er auch anstatt der Lieblichkeit der Herbstsonne auf den Eimsbütteler Stoppelfeldern besser Hennys Schönheit gepriesen.
All die Kutschen und Pferde fanden kaum Platz auf dem Mühlenhof, und die Müllerin hatte ein überrolltes Huhn und fünf zertretene Sternblumenstauden zu beklagen. Wegen der zu erwartenden Ermahnungen der Domina an ihren untreuen Mann würde sie die jedoch nicht auf die Rechnung für die Klosterverwaltung schreiben.
Rosina, Muto und Titus saßen auf dem Bock des Wagens, der mit der restlichen Beckerschen Komödiantengesellschaft und allerlei Reisekörben beladen als letzter in den Hof rollte. Muto sprang sofort herunter und verschwand mit Niklas und Simon, die ihn schon erwartet hatten, auf dem Pfad hinunter zu dem zweifachen Mühlrad und zum Fluß.
»Mademoiselle?« Ein Mädchen im lichtblauen Kattunkleid mit schneeweißer Schürze, etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, knickste vor Rosina. Es war viele Jahre her, daß das letzte Mal jemand vor ihr geknickst hatte, es sei denn auf der Bühne, und sie sah das Mädchen verblüfft an. Unter dessen leichter Haube kringelten hellbraune Locken rötlich glänzend hervor, winzige Sommersprossen zogen sich über Nase und Backenknochen, die blauen Augen blickten ohne Scheu. Das konnte nur Lisabeta sein, die neue Dienerin der Domina. Es versprach nicht leicht zu werden, aber sie würden einander gewachsen sein.
»Verzeiht, Ihr seid doch Mademoiselle Rosina? Die Ehrwürdige Jungfrau möchte Euch begrüßen. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt? Am besten gleich«, fügte sie hinzu, und Rosina war sicher, daß es um ihre Augen und in ihren Mundwinkeln verschwörerisch zuckte.
»Geh nur«, rief Helena, die gerade mit Rudolf einen der Körbe vom Wagen hob, »wir schaffen das schon allein. Du weißt ja«, fügte sie lachend hinzu, »eine Domina darf man nicht warten lassen.«
So eilte sie Lisabeta nach, die schon beim Durchgang der Hecke zum Garten wartete, um ihre Dienstherrin für fünf Tage zu begrüßen.
Im Blumengarten der Mühle, der Gemüsegarten war durch eine hohe Buchenhecke abgetrennt, bogen sich schon die Tische.
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