Die zerbrochene Uhr
es ein Kalb? – blökte im Küterhaus hinter dem Damenstift in Todesangst. Entfernte, unwirkliche Geräusche, die nur gedämpft durch die geschlossenen Fenster hereindrangen. Sonst war es still.
Eine kleine Gruppe von Männern stand leicht vorgebeugt im Halbkreis um den Lehnstuhl nahe der Tafel. Auf dem hockte immer noch der Lehrer der Sekunda. Allerdings schlief er nicht, wie Niklas vor wenigen Stunden angenommen hatte. Adam Donner war tot. Das war einfach zu erkennen, die noch halbgeöffneten Augen in seinem wahrhaft totenblassen Gesicht zeigten kein Leben mehr. Er atmete nicht, auch die blutige Weste, die Flecken auf Rock und Halsbinde und nicht zuletzt der rundliche Holzknauf, der aus seiner Brust ragte, räumten jeden Zweifel aus. Adam Donner war tot, irgendjemand hatte ihn erstochen.
»Kollege Müller, könntet Ihr mir freundlicherweise erklären …«
Johann Christian Wolf, Professor für Physik und Poesie am Akademischen Gymnasium und ein wegen seiner ausgeprägten Misanthropie von Schülern wie Kollegen gleichermaßen gefürchteter alter Mann, verstummte. Er hatte eine Viertelstunde auf seine Schüler gewartet, und just als er sich fragte, ob heute vielleicht Samstag und damit am Nachmittag schulfrei sei, ob er sich so habe irren können?, hörte er von unten das begeisterte Johlen. Er trat ans Fenster und sah mit gerechter Empörung gerade noch eine Staubwolke und eilig davonhastende Rücken. Das war unerhört. Was Müller mit seinen Schülern machte, war ihm egal. Aber die Schüler des Akademischen Gymnasiums, allesamt zukünftige Pastoren, Ärzte, Juristen, Honoratioren der Stadt, Bürgermeister gar … Als er bei diesem Gedanken angekommen war und überlegte, ob es im Sinne der seit jeher bürgerlichen Stadt sei, wenn er die Aufzählung mit »fürstliche Minister« krönte, war er schon mit steifen Knien die Treppe hinuntergestiegen und im Durchgang zum Johanneum. Er fühlte sich wunderbar ärgerlich, er würde genau den richtigen Ton aus Herablassung und vornehm gedämpftem Zorn finden, um sich solche Einmischung in seine Kompetenzen ein für allemal zu verbitten. Und nun das!
Das gesamte Kollegium des Johanneums samt Pedell sowie ein Mann in einem für diesen Ort ungewöhnlich elegant geschnittenen Rock – Professor Wolf glaubte in ihm das neue Mitglied des Scholarchats, den Kaufmann Claes Herrmanns, zu erkennen – standen um den großen Lehnstuhl herum und machten betretene Gesichter. Wolf konnte den Mann auf dem Stuhl nicht genau sehen. Rektor Müller drehte sich zu ihm um.
»Ach, Professor Wolf, es ist erschütternd, der Kollege Donner. Tot. Hier in der Schule.«
Der Halbkreis um den Toten öffnete sich wie zwei Flügel, und der Professor wurde blaß. Ein Sonnenstrahl war durch das Fenster hereingeschlichen und schickte sein Licht direkt auf den hölzernen Knauf in Donners Brust. Ärger und Empörung wichen schlagartig und machten einem heftigen Gefühl von Schwäche und Übelkeit Platz.
Töltjes habe ihn gefunden, berichtete der Rektor, nicht lange vor Unterrichtsbeginn, auf diesem Stuhl. Ja, genau an diesem Platz. Man habe schon nach der Wedde geschickt, und natürlich nach dem Arzt. Selbstverständlich. Wie solle man das nur den Herren vom Scholarchat erklären? Ein Mord in der Gelehrtenschule! So etwas sei undenkbar. An einem Ort des Geistes, der Frömmigkeit und der Wissenschaft. Im Angesicht des großen Reformators zudem – Müller warf einen schuldbewußten Blick zu dem schwärzlichen Porträt Martin Luthers zwischen den beiden Fenstern –, eine doppelt sündhafte Tat.
Schritte kamen laut und eilig über den Flur näher, und gleich darauf betrat Dr. Reimarus das Klassenzimmer, direkt gefolgt von Weddemeister Wagner, einem kleinen beleibten Mann im dunkelblauen Rock, der sich unablässig mit einem großen blauen Tuch Stirn und Nacken wischte, und dessen Weddeknecht.
Der Arzt warf einen kurzen Blick in die Runde der Männer, bat höflich, man möge weiter zurücktreten, er brauche Licht, und beugte sich über den Toten. Er bestätigte schnell, was alle wußten, nämlich daß Adam Donner tot war, erstochen. Man werde gleich sehen, mit was für einer Waffe.
Behutsam begann er, an dem hölzernen Griff zu ziehen. Unpassenderweise begann just in diesem Moment ein Stieglitz ein besonders fröhlich getrillertes Lied zu singen, das trotz der geschlossenen Fenster den Raum füllte. Rektor Müller schluckte. Er war nicht weltfremd, ihm war immer bewußt, daß sein Leben am Johanneum (trotz
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