Die zerbrochene Uhr
Meister Godard hatte ihm erzählt, in London und in Paris gebe es Werkstätten, in denen wohl hundert Uhren tickten. Das sei ein ganz eigenes Konzert, viele, tatsächlich die meisten, hätten zudem ein Schlagwerk, jedes klinge anders, so wie jede menschliche Stimme ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Klang habe. Die Stimmen der Uhren seien in ihrer Ruhe und Sicherheit ein wahrhaft himmlischer Chor. Manche Menschen, hatte er nach einer kleinen Pause hinzugefügt, empfänden das unablässige Ticken als bedrängend, als ständige Erinnerung an das Verrinnen der Zeit, als lästige Mahnung zur Eile. Aber das liege nicht an den Uhren und ihren Tönen, das liege allein an der Unruhe, die diese Menschen in sich selbst trügen. Sehr wohl verrinne mit jedem Tick und Tack, mit jedem Schlagen die Zeit, doch wenn man genau darauf achte, zeige es, wie langsam die Zeit verrinne, nicht wie schnell. Es mahne nicht zu blinder Eile, sondern zeige die Kostbarkeit der Zeit, die ja für jeden Menschen, für jedes Lebewesen auf Erden begrenzt sei und genutzt und genossen werden wolle. Dann hatte er sich wieder die Lupe vor sein Auge geklemmt und über den Arbeitstisch gebeugt. Monsieur Godard hielt selten so lange Reden.
An den Wänden seiner Werkstatt hingen nicht hundert, nicht einmal fünfzig oder zwanzig Uhren zum Verkauf. Aber fünfzehn waren es ganz gewiß. Am schönsten fand Simon die zwischen den beiden Fenstern zur Straße. Sie komme aus Frankreich, hatte der Uhrmacher gesagt, und sei erst im letzten Jahr gefertigt worden. Ihr weißemailliertes Zifferblatt war von Blüten und Ranken aus vergoldeter Bronze umrahmt, in deren oberer Mitte eine zierliche Gestalt saß, eine halb erblühte Rose in der linken Hand. Die feingeschnittenen Messingzeiger wiesen auf arabische Zahlen im äußeren Ring für die Minuten, auf römische im inneren für die Stunden. JACOB A PARIS stand in feiner schwarzer Schrift auf dem weißen Emaille.
Dann waren da noch die, die seine Kunden zur Reparatur gebracht hatten. Auch die bekamen nach getaner Arbeit für einige Tage einen Platz an den Wänden, damit Godard prüfen konnte, ob sie tickten und schlugen, wie es sich gehörte, die großen und kleinen Zeiger ehrlich mit der Zeit wanderten, anstatt faul zurückzubleiben oder mit zu viel Eile zu betrügen.
» Bonjour, Simon.« Godard nickte dem Jungen freundlich zu und warf einen Blick auf die Standuhr neben dem hinteren Fenster. Er prüfte die Zeit immer nur mit dieser Uhr. Ihr Gehäuse aus rötlichem Mahagoni war ganz schlicht, hinter der verglasten Tür schwang das messingne Pendel vor dem an einer feinen Kette hängenden Gewicht. Über dem emaillierten Zifferblatt zeigte ein Halbrund über dem Schriftzug Geo. Graham, London die Monate und den Stand von Sonne und Mond. Gewiß gab es schmuckreichere Uhren, aber Uhrwerke von Mr. Graham, auch das hatte Godard ihm erklärt, waren die präzisesten, die man sich denken konnte. Nicht nach der stets etwas schleppenden Turmuhr von St. Petri, die in der Stadt als Zeitgeber galt, stellte er seine Uhren, sondern nur nach dieser.
» Du bist früh hier. Solltest du nicht in der Schule sein?«
Simon nickte. » Eigentlich ja. Aber der Nachmittagsunterricht fällt heute aus. Die Schule ist geschlossen.«
» Geschlossen. Bist du sicher? Oder hast du nur vergessen, die Klinke hinunterzudrücken?«
» Nein, die Tür ist fest verschlossen, und alles ist still. Wenn man zu spät kommt, hört man sonst immer Stimmen aus den Klassen. Heute war alles ganz still, und die Magd des Wachsziehers am Plan hat mir gesagt, Rektor Müller habe alle nach Hause geschickt, weil es heute zu heiß zum Lernen sei.«
» In der letzten Woche war es heißer, da hat er euch nicht nach Hause geschickt. Aber wer weiß? Der Tag ist besonders schön, vielleicht hat er heute selber mehr Lust, in seinen Garten zu gehen, als im alten Kloster seine Primaner Hebräisch und Logik zu lehren.«
Zum erstenmal an diesem Tag lachte Simon. » Vielleicht«, sagte er. » Obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Rektor Müller würde nie auf einen so pflichtvergessenen Gedanken kommen.«
» Guten Tag, Simon.« Emma Godard, so blond wie ihr Vater dunkel, und grazil wie eine Libelle, stand in der Tür zum hinteren Lagerraum und nickte dem Besucher freundlich zu. » Heute schon so früh?«
» Seinen Lehrern ist es zu warm zum Schulehalten«, sagte ihr Vater, » und ihm fällt nichts Besseres ein, als den geschenkten Nachmittag in unserer Werkstatt zu vertun.
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