Die zerbrochene Uhr
hab’s vergessen, Vater«, murmelte er. Claes nickte nachsichtig und schickte Blohm in die Küche, um das Dessert zu holen. Nachdem die Pfirsiche und Vanillekuchen schon am Nachmittag verspeist worden waren, hatte Elsbeth einen Pudding aus Eiern, Zitronen, Butter, feinstem Zucker und einer Prise Kardamon gezaubert, dessen aromatischer Duft schon von der Küche heraufzog.
Mehr war nicht geschehen. Wirklich lächerlich, dachte Anne und stopfte sich ein zweites Kissen in den Rücken. Aber sie wußte, daß es eben nicht lächerlich war. Sie war Niklas’ Stiefmutter, und es war schwer gewesen, in dem kleinen stocksteifen Fremden, der erst im letzten Sommer nach vielen Jahren bei seiner Tante in Köln nach Hause zurückgekehrt war, das durch den Tod seiner Mutter und die lange Trennung von Vater und Geschwistern verletzte Kind zu finden. Aber es war gelungen, und manchmal dachte sie, daß sie, die ihm doch die Fremdeste war, die er in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr so unerbittlich zurückgewiesen hatte, ihn am besten kannte.
Niklas liebte seinen Vater, was der inzwischen für selbstverständlich hielt und deshalb nicht sah, daß die Empfindungen seines Sohnes mit einer großen Scheu verbunden waren. Wohl mochte er bedingungslos lieben, doch er war nie sicher, ob auch die Liebe seines Vaters für ihn bedingungslos war. Nie sicher, ob er ihn nicht wo möglich eines Tages wieder wegschicken würde. Mit Anne war das anders. Anne war da, aber mehr wie eine Tante oder ältere Schwester, sie schien nichts von dem zu erwarten, was er nicht wollte oder konnte. Nicht daß er ihr die Geheimnisse seiner Seele anvertraut hätte, aber zumindest bemühte er sich vor ihr nicht, jemand anderer zu sein, als er war.
Anne war nicht sicher, ob das alles stimmte, aber gewiß stimmte, daß Niklas’ Liebe zu seinem Vater mit großer Scheu belastet war. Das würde die Zeit heilen, so wie die zornig kalte Abwehr der ersten Monate nach seiner Rückkehr, da war sie sicher. Ein wenig mußte natürlich nachgeholfen werden, hier und da, diskret und geduldig. Vor allem geduldig. Alles konnte man der Zeit nun wirklich nicht allein überlassen.
Nein, Claes hatte nicht bemerkt, daß Niklas bei seiner Schilderung der Ereignisse im Johanneum mehr als angemessen verstört gewesen war. Auch nicht, daß ihm die Gabel just heruntergefallen war, als sein Vater von dem verschlossenen Portal sprach. Das hatte er ganz unbedeutend gefunden. Es sei schön, hatte er gesagt und ihr sanft den Nacken geküßt, und zeuge von wahrhaft mütterlicher Liebe, daß sie sich stets um seinen versponnenen Sohn sorge. Aber manchmal, da hatte er sie ein zweites Mal geküßt und begonnen, die Bänder ihres Nachtkleides zu lösen, sehe sie einfach Gespenster.
Wenn das stimmte, wovon sie keineswegs überzeugt war, waren es äußerst beharrliche Gespenster. Claes mochte denken, was er wollte. Sie wußte, was sie gesehen und gefühlt hatte. Es gab etwas, das Niklas zutiefst beunruhigte, etwas, das er mitteilen wollte, aber sich nicht zu erzählen traute. Morgen, dachte sie und fühlte endlich das wohlig-sanfte Schweben des nahenden Schlafs, morgen würde sie ihn fragen. Oder übermorgen. Es war nicht gut, einen Jungen von dreizehn Jahren mit Sorge und Neugier zu bedrängen, nur weil ihm im falschen Moment eine Gabel entglitten war.
4. KAPITEL
FREITAG, DEN 5. AUGUSTUS,
VORMITTAGS
Die Pumpe quietschte kraftvoll, aus ihrem Maul floß dennoch nur ein fingerdickes Rinnsal. Wohl fünfzigmal hatte Rosina den Schwengel auf und nieder gedrückt, und der Eimer war kaum halb voll. Immerhin ersparte ihr die Pumpe gleich neben dem Dragonerstall bei allem Geiz den weiten Weg zur Alster oder zu dem noch weiter entfernten Brunnen auf dem Großneumarkt. Rosina ließ den Pumpenschwengel los, streckte die Arme und sah über den Platz am Rande des Walls. Hier war es viel ruhiger als in der inneren Stadt. Ab und zu rollte ein hoch mit Getreidesäcken bepackter Wagen unterwegs zu den Mühlen auf den Bastionen Henricus und Casparus vorbei, eine Frau, Röcke und Schürze gegen den Schmutz hochgebunden, schob eine Karre dampfenden Pferdemist aus dem Stall und verschwand mit schweren Schritten im Bäckerbreitergang. Kein Straßenverkäufer, von denen es auf den Plätzen und Straßen der Altstadt und auf dem Gänsemarkt nur so wimmelte, weit und breit. Die würden erst kommen, wenn die Wälle in der milden Luft des Sommerabends oder am Sonntag nach den Hauptgottesdiensten zum
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