Die zerbrochene Uhr
Flanierstieg für die halbe Stadt wurden.
Johlend kam eine Horde Jungen von der Rumbaumischen Armenschule über den Platz getobt. Alle barfuß, die meisten in abgerissener, oft geflickter Kleidung. Der erste stieß einen aus Lumpen gebundenen Ball vor sich her, offensichtlich waren die Besitzverhältnisse nicht eindeutig. Gerade begann die schönste Prügelei, da traten zwei Dragoner aus dem Stall, ihre gesattelten Pferde am Zügel, und einer von ihnen pfiff gellend auf zwei Fingern. In Windeseile stob das Knäuel aus zerschrammten Armen und Beinen und gegen die Läuseplage kurzgeschorener Köpfe auseinander, und im Nu waren die Jungen in alle Himmelsrichtungen verschwunden, als hätten die engen Straßen und Höfe sie einfach verschluckt. Zumindest einer würde bald zurückkommen. Der Lumpenball lag, noch schmutziger als zuvor, in Pferdeäpfeln gewälzt und beinahe vollständig aufgelöst, im Staub hinter einem der Beckerschen Wagen. Die Jungen waren auch gestern hier gewesen, hungrig nach Neuem, neugierig auf diese Fremden mit ihren Wagen voller seltsamer Gerätschaften und bunter Kostüme, diese Fremden, von denen abenteuerliche Geschichten erzählt wurden, die reisen konnten, wohin sie wollten. Überall, in jedem Dorf, in jeder Stadt waren es die Jungen in den ärmlichen Kleidern, Kinder mit von schwerer Arbeit schon groben Händen, die zuerst auftauchten, wenn die Komödiantenwagen durch die Straßen rollten.
Noch ein Pfiff ertönte, diesmal aus zwei gespitzten Mündern und melodischer, und Rosina griff nach dem Pumpenschwengel und setzte ihre Arbeit fort, die Augen fest auf den mageren Wasserstrahl gerichtet. Es stimmte schon, das Komödienhaus am Dragonerstall war größer und besser als die abgebrochene Theaterbude im Krögerschen Hof. Jedenfalls nachdem es gründlich geschrubbt und mit Kulissen und Vorhängen versehen sein würde. Und dem neuen Bühnenboden natürlich. Aber die ständige Nähe der Dragoner war mehr als lästig. Was Jean allerdings gar nicht fand. Die Herren, so sagte er, obwohl kaum einer von ihnen sich wie ein Herr benahm, seien doch sehr amüsant und ganz gewiß schon die Hälfte des Publikums. Daß er sich vor allem darauf freute, mit den Soldaten stundenlang Karten zu spielen, sagte er natürlich nicht. Das wußten sowieso alle, und Helena würde ihm früh genug eine Strafpredigt halten.
»Pardon, Mademoiselle.« Samtweich ertönte der Gruß hinter ihrem Rücken, und sie fuhr ärgerlich herum. Aber da stand kein feixender Dragoner, da stand ein Mann im moorbraunen Rock, den Kopf ergeben geneigt, und wäre da nicht die flinke Bewegung der Zungenspitze auf seinen Lippen, das Huschen seines Blicks über ihr Dekolleté gewesen, hätte sie ihn für bescheiden gehalten.
»Karl Mosbert«, stellte er sich vor, »Beauftragter des Theaters zu Mannheim. Pardon. Ihr müßt Mademoiselle Rosina sein. Oder Mademoiselle Manon?« Sie antwortete ihm nicht, sah ihn nur abwartend an, und er fuhr fort: »Ich hatte gehofft, Monsieur Jean anzutreffen, mit Monsieur Curieux. Gewiß hat er Euch berichtet.«
Er verstummte unbehaglich unter dem undurchdringlichen Blick der Komödiantin. Er kannte viele, die ihr Brot auf den Theaterbrettern verdienten, doch solche Blicke war er von ihnen nicht gewöhnt. Rosina hatte in der Tat von Jeans neuen Bekanntschaften gehört, allerdings in den zwei völlig verschiedenen Versionen Jeans und Helenas, und sie beschloß, ihrem Prinzipal zuliebe freundlich zu sein. Auch wenn sie dazu neigte, Helenas Sicht für die zutreffendere zu halten.
»Mein Name ist Rosina, Monsieur Mosbert«, sagte sie. »Ich bedaure, aber weder mein Prinzipal noch Monsieur Curieux sind hier.«
Was nicht ganz richtig war, denn just in diesem Moment flatterte zuerst eine Wolke von Veilchenduft, dann Lazare Curieux persönlich um die Ecke des Komödienhauses.
»Bonjour, mon cher Charles. Oh, wie bezaubernd! Ist das Mademoiselle Manon? Mais non, ich sehe, das kann nur Mademoiselle Rosina sein, la première Soubrette de la maison. Enchanté, Mademoiselle.« Wieder zeigte er den schönen Kratzfuß, den Rosina allerdings recht altbacken fand, griff nach ihrer widerstrebenden Hand, küßte und tätschelte sie, bis es ihr endlich gelang, sie ihm zu entziehen. Das hinderte ihn nicht daran, umgehend ihre Schönheit und die edle Linie ihres Halses zu preisen. Mit Komplimenten über ihr Dekolleté hielt er sich klugerweise zurück, obwohl er seine gepuderte, etwas spitz und kurz geratene Nase in bedenkliche
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