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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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ihr gerade nichts Besseres einfiel. Was sagte man, wenn man plötzlich einer Frau gegenübersaß, die man fast ein halbes Jahrhundert nicht gesehen hatte? Sie war erstaunt gewesen über Mettes unverzügliche Einladung. Erst heute morgen hatte sie eines der Mädchen mit einem Billett zum Stift geschickt, Mette um die Erlaubnis zu einem Besuch gebeten – um der alten Zeiten willen – und gehofft, daß die inzwischen einiges dieser alten Zeiten vergessen hatte. Das Mädchen kam schnell mit der Nachricht zurück, die Domina erwarte Madame Kjellerup am Nachmittag um drei Uhr. Mit soviel Eile hatte Augusta nicht gerechnet.
    »Ja«, sagte die Domina, »es ist hübsch hier. Du wirst gewiß nicht gedacht haben, daß wir in kargen Zellen leben wie einst die Nonnen.« Da war er wieder, der alte spöttische Ton. »Und mein Garten«, sie machte eine vage Handbewegung zum Fenster, »ist immer ein erfreulicher Anblick. Wenn es nicht gerade Winter ist natürlich, mit unserem ewigen Regen. Wie man hört, hast du es auch nicht schlecht getroffen. Und da kommt endlich Lene mit dem Tee.«
    Das ›endlich* hatte sie diskret, doch unüberhörbar betont, und das Mädchen, das Augusta im Eilschritt durch das Stift geleitet hatte und nun mit einem Tablett den Raum betrat, errötete schuldbewußt. Sie stellte das Tablett auf die Kommode, balancierte zwei Tassen aus schneeweißem, mit zarten rost- und goldfarbenen Blüten und Vögeln bemaltem Porzellan auf das Tischchen, brachte einen Teller mit kandierten Früchten, kleine Schalen mit feinem weißem Zucker und Sahne und schließlich die Kanne mit dem dampfenden Tee.
    »Die Löffel«, sagte die Domina, die jede Bewegung des Mädchens beobachtet hatte, tonlos. Lene hatte schon geknickst und das Tablett genommen, um so schnell wie möglich wieder zu entkommen. Nun griff sie hastig, eine Entschuldigung murmelnd, nach den beiden kleinen silbernen Löffeln, die sie auf die Kommode gelegt und vergessen hatte. Sie hätte sich besser nicht so sehr beeilt. Sie drehte sich um, gar zu beflissen, und ihr Schuh verfing sich in ihren Röcken, sie stolperte, griff nach der Kommode, erreichte einen Schubladenknauf – kurz und gut, eine Sekunde später lag Lene, das Tablett neben sich, die beiden Löffel sicher in der erhobenen Faust, auf den Dielen, die Haube über dem Gesicht und den weißen Hals mit flammender Röte Übergossen.
    »Du lieber Himmel!« Augusta wollte aus ihrem Sessel aufspringen, aber die gebieterisch erhobene Hand der Domina hielt sie zurück. Mette van Dorting sah mit blitzenden Augen und schmalen Lippen auf das Mädchen hinab und sagte mit einer Stimme, die selbst aus einem glühenden Stück Kohle Eis gemacht hätte: »Vielen Dank, Lene. Wenn du die Löffel auf den Tisch gelegt hast, kannst du gehen.«
    Es sei eine Schande, erklärte sie, als das Mädchen mit erstaunlicher Geschwindigkeit seinen Auftrag ausgeführt und den Raum verlassen hatte. Augusta möge verzeihen, das Personal im Stift sei sonst ausgezeichnet. Aber ihr Mädchen habe sie vor fünf Wochen verlassen, um zu heiraten, was sie persönlich für unklug halte, aber die jungen Frauen müßten selbst wissen, wie sie ihr Leben leben wollten. Sie habe sie jedenfalls verlassen, um sich künftig für einen Schuhmacher und seine vier Kinder abzurackern und die Familie ohne Zweifel in absehbarer Zeit noch zu vergrößern. Bisher habe sich kein geeigneter Ersatz gefunden. Die Dummen seien laute Trampel, die Klugen nicht so folgsam und respektvoll, wie es sich gehöre. Lene sei schon die dritte, die sie in diesen wenigen Wochen erprobe. Nun sei gewiß, es werde eine vierte geben. Mindestens.
    An dieser Stelle seufzte die Domina nicht, wie es jede andere vom Ärger mit dem Personal ermüdete Hausfrau getan hätte, sondern klopfte energisch mit dem Knöchel auf das Tischchen, daß die Tassen klirrten. Dann schenkte sie den zart nach Jasmin duftenden Tee ein und sah Augusta auffordernd an.
    Nach einer Stunde und einigen Debatten unter anderem über die Unruhen der Bauern auf Korsika und der Bürger in Genf (Mette zeigte erstaunlicherweise besonders für den Aufstand der Genfer gegen die alleinherrschenden Patrizier Sympathie) und über die Qualitäten des komischen Epos Wilhelmine oder der vermählte Pedant von Monsieur von Thümmel fand Augusta, daß ihr graues Bild von den bescheidenen und vor allem frommen Stiftsdamen falsch gewesen war. Wenigstens was Mette van Dorting betraf.
    »Und nun, Augusta«, sagte die Domina, als die Uhr

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