Die zerbrochene Uhr
falsch, was aber auch ihm nicht auffiel, da er es nicht besser konnte. Redeten immer lauter von den wunderbaren Jahren, die sie einst auf der Schulbank verbracht hatten, Cicero hin, Hebräisch und Geographie her. In der Erinnerung, so stellte Claes mit Verwunderung fest, war den meisten die Schulzeit eine Zeit der lustigen Streiche.
Claes erinnerte vor allem Jahre der unendlichen Stunden des erzwungenen Stillsitzens, des Auswendiglernens und monotonen Rezitierens belehrender Texte, erinnerte harte Schläge, demütigende Verweise auf die Eselsbank, das Zittern vor den Osterprüfungen.
Schließlich bekamen die Rufe nach Kaffee, Branntwein oder Port ärgerliche Untertöne, und Jensen mußte doch wieder in seine Küche und hinter seinen Schanktisch. Persching, ein hagerer Mann, der es im Rußland-Handel mit Hanf, Getreide, Pottasche und Juchten gegen Zucker, erlesen bedruckte Kattune und kostbare französische Seiden und Galanteriewaren zu einem sechs Fenster breiten und vier Etagen hohen Haus am Neuen Wall und einem beachtlichen Garten in bester Lage an der Bille gebracht hatte, rief ihm nach: »Aber gemeine Lehrer hat es auch schon immer gegeben, das weiß unser Jensen am besten. Was, Jensen?«
Aber der war schon verschwunden, mit ungewohnter Geschwindigkeit, und Persching lachte meckernd hinter ihm her. Jensen, rief er, wäre heute womöglich Hauptpastor oder gelehrter Professor in Göttingen, wenn ihm der Lehrer – wie habe der Kerl doch geheißen?, der Name sei ihm nun entfallen, Jensen könne sich aber garantiert erinnern –, wenn der damals nicht dafür gesorgt hätte, daß er nach der Quinta aus der Schule entlassen wurde. Weil keine Hoffnung sei, daß er die oberen Klassen bewältige, was vielleicht gestimmt habe, vielleicht auch nicht. Jensen sei nicht dumm gewesen, sondern nur nervös. Jawohl, dünne Nerven, wie man heute sagen würde.
Er habe immer alles gewußt, aber sobald er von seiner Bank aufstehen und etwas rezitieren mußte, den Lehrer mit den Augen eines Bussards beim Sturzflug auf ein Kaninchen direkt vor der Nase, wurde er zum Stotterer, wie es kaum je einen zweiten gegeben habe, jedenfalls nicht, solange er, Persching, zur Schule gegangen sei. Und er habe in der Tat – wieder lachte er, daß sich seine schmale Brust nur so blähte – besonders viele Jahre gebraucht, bis er endlich diesem staubigen Marterhaus entkommen sei.
»Moment«, Claes fühlte sich in seiner neuen Scholarchenehre angegriffen, »so einfach ist das nicht. Dazu sind doch die Prüfungen durch die Scholarchen da, damit nicht ein einzelner Lehrer einen Schüler falsch beurteilt, und Johann Müller … «
Eine Welle des Gelächters rollte durch Jensens Kaffeehaus. »Herrmanns«, rief Bocholt vergnügt, der sonst nie laut sprach, geschweige denn vergnügt lachte, »dein Gedächtnis ist ein Sieb. Aber du hattest ja schon immer ein dickes Fell. Wenn dich einer was fragte, hast du’s gewußt und gesagt, oder nicht gewußt und die Strafe auf der Eselsbank abgesessen oder hundertmal einen Absatz aus dem Katechismus aufgeschrieben. Ich hingegen«, nun sah er gar nicht mehr vergnügt aus, »ich hingegen habe ein sehr viel feineres Gemüt, wenn ich den Schmerz bedenke … «
»Die Scholarchen«, rief ein anderer grob dazwischen, dessen Gesicht Claes hinter den Rücken der Männer nicht entdecken konnte, »mögen ja gerecht sein. Aber wenn die da sitzen, mehr als zwanzig würdige Männer in schwarzen Röcken, die Pastoren mit ihren Halskrausen gar und allem Drum und Dran und Gesichtern wie Gottvater persönlich, da kann auch dem stärksten Schüler mal die Rede vergehen.«
Wieder ging es hoch her. Jeder wußte zu berichten, wie er einmal – den Kopf vollgestopft mit Wissen – stumm vor seinem Lehrer gestanden hatte, aus lauter Angst, bei einem Fehler ertappt zu werden, den Aufstieg in die nächsthöhere Klasse zu verpassen und statt dessen ein väterliches Donnerwetter zu ernten, oder einfach, weil das Gesicht vor ihm so grimmig war und alle geheimsten Verfehlungen zu kennen schien.
»Ich kann da nicht mitreden«, erhob sich nun Bodes Bariton über das Geschwätz der Männer, »ich hatte nie die Ehre, eine gelehrte Schule zu besuchen. Aber wenn ich mir all diese Affairen anhöre, würde ich den Mörder unter den Schülern suchen. Es sind ja nur zwei- oder dreihundert. Oder unter den Scholarchen.« Er schlug Claes krachend auf die Schulter. »Da kann man doch auch als braver Scholarch einen Zorn bekommen, wenn einem die Lehrer
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