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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Kaufmann wie Claes und sein Freund seit Johanneumzeiten, setzte sich neben ihn, strich behaglich die Enden seiner Halsbinde und nickte bedächtig.
    Das Knäuel der Männer hatte sich aufgelöst, sie saßen nun zu zweit oder zu dritt an den Tischen, eifrig das Für und Wider von Bodes Verdacht, die steigenden Getreidepreise, den Plan einer Verbindung der Elbe mit der Ostsee durch Kanäle oder auch die Zahl der Gertenschläge debattierend, die sie einst, ohne die Miene zu verziehen, durchgestanden hatten. Der Billardtisch war umlagert, und das Klicken der Bälle tönte hell durch den gedämpften Vorhang der Stimmen.
    Lessing und Bode hatten sich verabschiedet, auch Lessings Kollege aus Mannheim war nicht mehr zu sehen. Monsieur Curieux, der französische Korrespondent, saß bei Wittenberg, dem Redakteur des Hamburgischen Correspondenten, an einem Tisch nahe der Tür. Aber Wittenberg schien im Gegensatz zu sonst wenig Sinn für dessen Plauderei zu haben. Claes sah, wie er immer wieder zu ihm und Bocholt herübersah. Es konnte nur eine Frage von Minuten sein, bis er sich neben ihm niederließ und versuchte herauszubekommen, was er tatsächlich über den Mord im Johanneum wußte und meinte. Natürlich würde er ihm nichts sagen, aber Wittenberg war berüchtigt für seine Fähigkeit, selbst eine Auster zur Redseligkeit zu verführen. Claes hatte überhaupt keine Lust, in der nächsten Woche in der Zeitung Details darüber zu lesen, was sich Schreckliches in Hamburg zugetragen hatte. Es war höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.

6. KAPITEL
    SONNABEND, DEN 6. AUGUSTUS,
    NACHMITTAGS
     
    Rektor Müller fror. Dabei trug er seinen dunklen Rock aus feinem irischem Wolltuch, und der Augusttag war mindestens so heiß, wie es die letzten gewesen waren. Wieder sah er auf die Hände des Jungen, der aufrecht vor ihm auf der Kante seines Stuhles saß, und in das Gefühl der Kälte mischte sich heißer Zorn. Johann Samuel Müller war ein friedlicher Mann mit einem weiten Herzen. Zwar fühlte er oft Ärger, wenn er mit seinen Kollegen oder dem Scholarchat stritt, besonders in der letzten Zeit, seit es auch darum ging, die Lektüre englischer und französischer Romane, selbstverständlich nur äußerst sittsamer Werke, in den Sprachunterricht aufzunehmen, damit Wissen und Fähigkeiten der Jungen endlich den Anforderungen der modernen Zeit angepaßt wurden. Zorn jedoch war ihm kein vertrautes Gefühl. In seiner Jugend mochte er es gekannt haben, zu jenen unruhigen Jahren gehörte es eben wie die großen Träume von Reisen über die Meere, Entdeckungen unbekannter Kontinente, vielleicht auch von der großen, der ganz großen, alles überstrahlenden Liebe.
    Der Zorn wie die Träume waren unter Jahrzehnten der Pflichterfüllung verschüttet. Er hatte seine Pflichten stets gerne erfüllt, er liebte seinen Beruf und war ein zufriedener Mensch. Und doch, so wie er in den letzten Jahren neue Träume entdeckte, ganz irdische Träume von einem richtigen Schultheater anstelle der wenigen Aufführungen zur Prüfungszeit, überhaupt von einer besseren Schule, die nicht nur half, papiernes Wissen anzuhäufen, sondern die Schüler das Denken lehrte. Das war natürlich ein gefährlicher Traum, wer wußte schon, was dabei herauskam? Aber ein Mensch, der keine eigenen Gedanken zu entwickeln lernte, blieb stumpf und verharrte auf der Stelle. Wenn er mit Basedow in Altona saß und über dessen neue Schriften zur Erziehung der Jugend debattierte, in der letzten Zeit vor allem zu den Pflichten der Eltern, fühlte er wieder einen Hauch des alten, lange vergessenen Zorns. Es war kein unangenehmes Gefühl. Fast genoß er es als einen Anflug von Kühnheit, von Entschlossenheit, dem verknöcherten Trott auf seine alten Tage wieder die ganze Kraft für das reale Leben, für das Neue, entgegenzusetzen. Diese Jungen, die ihm und den anderen Lehrern für viele Jahre anvertraut waren, durften nicht zur Angst und zum stummen Gehorsam gedrillt, sondern mußten für die Zukunft, für den mutigen Blick nach vorne geformt werden. Es war nicht genug, immer nur das Alte zu bewahren, es mußte mit dem Neuen zu etwas Besserem verbunden werden. Ob es einem behagte oder nicht, nichts blieb, wie es war, alles war im Fluß. Auf Gott zu vertrauen war gut und notwendig, aber nicht genug. Die Freiheit der Gedanken mußte möglich sein und zu einer Freiheit des Handelns führen. Einem gemeinnützigen Handeln, das allen zum Guten gereichte. Das mußte die Pflicht des Bürgers

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