Die zerbrochene Uhr
sein.
Gerade die fünf Hauptpastoren, seit jeher die führenden Stimmen im Scholarchat, und unter ihrem Senior Goeze, dem Hauptpastor von St. Katharinen, beharrliche Kämpfer gegen jede Veränderung, müßten das verstehen. Was wäre aus ihrer Religion geworden, wenn Luther nicht neue Wege gewagt hätte? Luther, so hatte Basedow allerdings neulich geketzert, Luther sei letztlich auch nur ein Fürstendiener gewesen. Nun gut, da hatten schon eine ganze Anzahl geleerter Weinkrüge auf dem Tisch gestanden. Er selbst fand das übertrieben. Basedow übertrieb ja immer gern. Aber es war doch bedenkenswert.
Und nun saß dieser Junge vor ihm, fast schon ein Mann, doch mit wundgeschlagenen Händen, und hatte nicht gewagt, sich ihm anzuvertrauen. Er sah auf diese noch immer geschwollenen Hände und schüttelte den Kopf. Simon lebte in seiner Wohnung, er hätte wissen müssen, daß den Jungen etwas bedrückte, schon lange und schwer bedrückte. Aber Simon war so still, so freundlich und höflich, er lernte fleißig, blieb nie zu lange aus. Ihm war nicht einmal der Gedanke gekommen, daß der Junge seine Hilfe brauchte. Damals, bei den Güterprüfungen, hatte ihn wohl gewundert, daß Simon nicht in die Prima aufgestiegen war, aber er war so mit den Theater- und Deklamationsvorführungen der Jungen beschäftigt gewesen, die stets ein Spektakel für die Bürger der Stadt waren und auch ihm selbst der höchste Genuß des ganzen Schuljahres.
»Es tut mir leid, Simon«, sagte er, »ich hätte das schon am Donnerstag bemerken müssen, aber natürlich, das verstehst du gewiß, nach diesem schrecklichen Ereignis habe ich gar nichts anderes mehr gesehen als immer wieder das Bild deines Onkels, wie er da auf dem Stuhl saß, den Blutfleck auf der Brust. Trotzdem, das war ja erst nach der Mittagspause, warum hast du mir nur nichts gesagt, gleich nachdem er dich so geschlagen hatte?«
Der Junge saß da, mit gesenktem Kopf, und schwieg.
Johann Müller seufzte. »Du denkst, ich sei der Rektor, und die Lehrer und ich, wir seien eine Sippschaft, du seist nur ein Schüler ohne Rechte. Das ist Unsinn, Simon. Ich dachte, du weißt, wie ich zu diesen Dingen stehe.«
Er wußte auch, daß es nicht wirklich Unsinn, sondern die tägliche Erfahrung der Schüler war. Der Willkür unbeherrschter Pädagogen waren in der Schulordnung wohl Grenzen gesetzt, aber als Bürger wie als Rektor wußte er genau, daß Jungen, egal wie widerspenstig sie sein mochten, immer die Schwächeren waren. Wer sich nicht einfügte, mußte die Schule irgendwann verlassen und würde kaum eine andere finden.
Sein kurzer Anflug von Zorn wich Verzagtheit. Plötzlich wußte er, was dieser Zorn gemeint hatte. Nun verstand er, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Es war nicht der Zorn auf den Toten, der, wie sich nun zeigte, ein so ungerechter Pädagoge gewesen war, nicht der Zorn auf den Jungen, der ihm nicht vertraut, nicht der Zorn auf sich selbst, der nicht genau genug hingesehen hatte. Es war der Zorn über den Verdacht, diesen schrecklichen Verdacht, der sich in seinem Kopf ausbreitete wie ein Fieber, sosehr er sich auch bemühte, ihm zu widerstehen.
Er hatte Simon zu sich gerufen, um mit ihm über den Tod seines Onkels zu sprechen und ihm Trost zu spenden. Nun hatte er erfahren, daß dieser Onkel den Jungen schon lange gequält hatte. So hatte Simon es nicht ausgedrückt, er hatte einfach erzählt, wie er ihn immer wieder unterbrach, wenn er Texte rezitierte, wie er ihn mit leisem, doch um so spitzerem Spott und seltsamen Andeutungen, die er nicht ganz verstand, die ihn aber doch verwirrt und beleidigt hatten, vor der Klasse lächerlich zu machen suchte. Wie er ihn schlug, am Tag seines Todes so heftig, daß Simons Hände immer noch keine Feder zu führen vermochten, ohne zu krakeln und zu klecksen. Kurz vor seinem Tod. War es möglich, daß in diesem stillen Jungen eine solche Leidenschaft brannte, die zum Haß und schließlich zur Tat geworden war?
Der Verdacht schlich sich in seinen Kopf – nicht in Worten, da waren nur Bilder, verschwommen, düster, weil er sie nicht sehen, nicht wahrhaben wollte. Sie konnten ja nicht wahr sein. Oder doch? Simon, der in der Pause heimlich in die Schule zurückkehrt, der seinen Onkel überrascht, ihm die lange Nadel ins Herz sticht, Simon, der davonläuft.
Er legte die rechte Hand auf seine Brust, aber sein Herz klopfte weiter heftig und drohend. Er wollte diese Bilder nicht sehen, diese Gedanken nicht denken. Er wollte, wenn Wagner
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