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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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oder Monsieur Herrmanns ihn danach fragten, nicht sagen: Ja, es gibt einen Schüler, der den Kollegen Donner gehaßt hat. Das wollte er nicht sagen müssen. Aber was? Was sollte er sagen? Und wie wurde er diese Bilder in seinem Kopf wieder los?
    Er atmete tief, hob mit dem Zeigefinger Simons Kinn und sah ihn sorgenvoll an. Der hielt immer noch den Blick gesenkt. »Sieh mich an, Simon«, sagte der Rektor. »Ich muß nun etwas fragen, was ich nicht fragen will. Aber ich muß, und du wirst mir antworten. Du warst nie einer, der zu lügen verstand. Ich werde deiner Antwort vertrauen, und damit wird es gut sein. Wirst du mir antworten?«
    Der Junge sah ihn an, aus trockenen dunklen Augen, und er erkannte darin neben dem Schmerz und der Scham Erleichterung, die kindliche Bitte um Hilfe, um die Möglichkeit, sich einem Stärkeren anzuvertrauen, die Last der Verantwortung, der Einsamkeit endlich teilen zu können.
    »Ich habe immer gewußt«, begann der Rektor, »daß dein Onkel weder deine Nähe suchte noch dir die väterliche Freundschaft entgegenbrachte, wie es der Natur eurer familiären Bindung entsprochen hätte. So wie er dich auch nicht in seiner Wohnung aufnahm, sondern bei mir um Pension für dich anfragte. Ich habe das für einen Ausdruck seiner«, er zögerte und fuhr dann fort, »seiner, nun ja, äußerst strengen Pflichtauffassung gehalten. Er wollte sich und auch dich, so glaubte ich, nicht dem Verdacht aussetzen, er bevorzuge dich vor den anderen. Es ist immer schwierig, den eigenen Sohn oder Neffen zu unterrichten und dabei gerecht zu bleiben. Ich habe allerdings nie vermutet, daß er es mit seiner Strenge so weit treibt.«
    »Ihr wolltet mich etwas fragen.« Die Stimme des Jungen war nun ganz klar.
    »Ja, Simon, natürlich.«
    »Ihr wollt mich fragen, ob ich es getan habe.«
    Der Rektor starrte in das blasse Gesicht, das in diesem Moment alles Jugendliche verloren hatte, und erschrak über die Kühle in der Stimme des Jungen. Er fühlte sich plötzlich, als seien ihre Rollen vertauscht: Er war nervös, wie Simon es sein sollte, und der wahr kühl und stark, wie er selbst es sein sollte.
    »Ja, das muß ich dich nun fragen. Hast du es getan, Simon?«
    »Nein, Monsieur, ich habe es nicht getan. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich ihm die Demütigungen vergelten kann, ich wollte zu Euch gehen, sogar zum Scholarchat, um ihn anzuzeigen. Er ist ja nicht nur zu mir so gewesen, wenn auch zu mir besonders. Aber«, er hob mit einer hilflosen Geste seine geröteten Hände, »nichts schien mir hilfreich. Ich malte mir auch aus, wie er unter ein Fuhrwerk gerät, unter die Hufe durchgehender Pferde. Wie ihm beim Neuen Kran ein Faß auf den Kopf fällt, wie er die große Treppe in der Bibliothek hinunterstürzt und sich … Das malte ich mir aus. Trotzdem habe ich nicht wirklich daran gedacht, ihn zu töten. Aber sosehr ich mich auch bemühe, es tut mir nicht leid, daß jemand anderes es getan hat. Es tut mir nicht leid.«
    Auch wenn das vollständig der sechsten Bitte des Vaterunsers sowie etlichen anderen Geboten der christlichen Lehre widersprach und eine entsprechende Ermahnung erfordert hätte, schwieg Müller. Was sollte er darauf auch sagen? Simon war zu klug, auch nicht mehr Kind genug, um mit Zeigefingerermahnungen bedacht zu werden. Und er war zu redlich, als daß nicht gerade dieser Mangel an Mitleid und Bedauern über den Tod seines Onkels ihn bald um so schwerer bedrücken würde. Dann, das nahm sich Johann Samuel Müller fest vor, wollte er achtsam und bereit sein und dafür sorgen, daß der Junge mit seiner erdrückenden Last nicht wieder allein bliebe.
    »Es ist nun gut, Simon«, sagte er schließlich. »Du weißt, daß ich dir glaube. Ich habe nie angenommen, daß du es getan haben könntest, aber ich mußte es aus deinem Mund hören. Verstehst du das?«
    Simon nickte, und in seinen Augen lag fast so etwas wie Trost für seinen Mentor, dem er solche Sorgen bereitete.
    »Geh hinaus in die Sonne, Junge. In den Garten oder auf die Wälle. Der schöne Tag wird dir guttun.«
    »Wenn Ihr erlaubt, gehe ich lieber in mein Zimmer.«
    »Ganz wie du willst. Vielleicht ist das auch besser. Heute nachmittag kommt der Weddemeister, und ich bin sicher, er wird auch mit dir sprechen wollen. Nein, nicht wegen der Schläge und dieser Dinge, davon weiß er nichts. Aber du warst nicht nur Adam Donners Schüler, sondern auch sein Neffe. Dieser Weddemeister sieht ein wenig einfältig aus, doch das ist er nicht. Was

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