Die zerbrochene Uhr
viele Rollen gespielt, auf der Bühne wie im wahren Leben. Für die Suche nach einem Mörder war sie für einige Stunden oder gar Tage ein reicher junger Sachse gewesen, ein Kontorschreiber oder ein Serviermädchen. Nun also würde sie sich in das Dienstmädchen einer Domina verwandeln. Eine leichte Rolle, dachte sie, und spürte doch ein Gefühl von Unbehagen. Sie war nicht sicher, ob sich eine wachsame Domina genauso leicht täuschen ließ wie die selbstgefälligen Männer im Kaffeehaus.
7. KAPITEL
SONNABEND, DEN 6. AUGUSTUS,
NACHTS
Die Stadt lag in tiefem Dunkel, nur hinter einem der Fenster der Kattundruckerei am jenseitigen Ufer der Kleinen Alster schimmerte noch Kerzenlicht, und im Durchgang zum Neuen Wall schwankte einem dicken Glühwürmchen gleich ein gelber Punkt. Irgend jemand ließ sich nach einem späten Besuch von einem Laternenträger nach Hause begleiten. Die Laterne verschwand, und es schien Simon, als sei die Stadt nun ganz und gar verlassen. Es waren noch vier oder fünf Tage bis Neumond, doch selbst der sichelschmale Rest des Mondes verbarg sich hinter den aufziehenden Wolken und schenkte kein Licht. Keinen Trost, dachte Simon, und tadelte sich für diesen Gedanken des Selbstmitleids. Er sah hinunter auf die Straße und trat erschrocken zurück. Da war er wieder. Wer? Er trat an die Seite des Fensters, beugte sich im Schutz der Gardine vor und sah vorsichtig hinab auf den Plan. Da war niemand. Er sah Gespenster. Nein, da war niemand. Obwohl, wenn doch jemand zu seinem Fenster hinaufgesehen und ihn bemerkt hatte, war er vielleicht schnell davongegangen. Vielleicht hatte er sich aber auch im Schatten des Hauses an die Wand gedrückt. Oder er hielt sich hinter einem der Bäume vor dem Portal verborgen, oder …
»Unsinn«, murmelte Simon, setzte sich wieder an seinen Tisch und griff nach der Feder. Selbst wenn tatsächlich jemand dort gewesen war – es liefen in jeder Nacht alle möglichen Leute in der Stadt herum, zu ihrem Vergnügen, auf dem Heimweg von einer Soiree, einem Gasthaus oder in Geschäften, gewiß auch in dunklen. Warum sollte einer ausgerechnet unter seinem Fenster stehen und ihn beobachten? Wozu? Er konnte kaum darauf hoffen, daß ein Schüler, zudem Pensionist des Rektors, zu so später Stunde noch aus dem Haus trat. Wer sollte mitten in der Nacht überhaupt etwas von ihm wollen?
Sicher hatte er sich auch heute mittag, als er vor den Gedanken und Bildern in seinem Kopf zum Hafen hinunter geflüchtet war, nur eingebildet, daß dieser Mann, ein ganz gewöhnlicher Mann mit einer etwas zu spitzen Nase, ihm gefolgt war. Der Fremde hatte ihn angesprochen und nach dem Weg zum Baumhaus gefragt, gewiß war es nur ein Zufall, daß er sich dann gar nicht dorthin wandte, sondern den gleichen Weg wie Simon einschlug, den Cremon hinauf, an St. Nikolai vorbei und schließlich über die Große Johannisstraße zurück zum Gymnasium. In der Johannisstraße hatte er ihn nicht mehr gesehen, er war ihm also gar nicht gefolgt, sondern nur ein Stück des gleichen Weges gegangen. Wie viele andere auch. Zur Mittagszeit wimmelte es auf den Straßen und Plätzen um St. Nikolai von Menschen und Fuhrwerken. Dennoch, er wußte nicht warum, hatte der Mann ihn erschreckt. Er war so nahe an ihn herangetreten, näher, als es für eine einfache Frage notwendig gewesen wäre. Seine Augen hatten ihn aufmerksam angesehen, und sein Lächeln – das war das schlimmste – sein Lächeln hatte ihn an seinen Onkel erinnert, an die Minuten, in denen er wenige Stunden vor seinem Ende immer wieder die Gerte auf seine, Simons Hände niedersausen ließ. Dieses schmale, fast füchsische Lächeln. Nur daß der Fremde nicht solche strichschmalen Lippen wie sein Onkel gehabt hatte. Auch war er ihm etwas größer erschienen.
»Schluß jetzt«, sagte Simon laut, und noch einmal: »Schluß.«
Man durfte sich auf solche Gedankenspiele nicht einlassen. Außerdem mußte endlich dieser Brief geschrieben werden. Er tauchte die Feder in das Tintenfaß, streifte sie sorgfältig ab und starrte auf den Papierbogen, der vor ihm auf dem Tisch lag. Schließlich steckte er die Feder seufzend zurück in den Halter, stützte seine Stirn auf die gespreizten Finger und las, was er geschrieben hatte.
So ging es auch nicht. Er zerriß den Bogen, rieb und drückte die Fetzen zwischen den Handflächen zu einem flachen Knäuel und warf es auf den Boden. Da lagen schon drei andere, die genauso aussahen und von seinen vergeblichen Versuchen
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