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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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zeugten, einen liebevoll anteilnehmenden Brief zu schreiben. Er hatte es sich leicht vorgestellt, es waren ja nur Worte, geschriebene Worte, mit denen es leichter war zu lügen, als wenn man einander gegenüberstand. Doch immer wenn er Sätze wie: ’Ich bin zutiefst betrübt über den schweren Verlust› schrieb, oder: ‹… herrschen in der ganzen Schule tiefe Trauer und Entsetzen‚, begann seine Feder zu zittern, und die Buchstaben wurden häßlich. Noch häßlicher, als sie mit seinen immer noch ungelenken Fingern ohnedies wurden. Sie würde es merken, und es würde sie schrecklieh traurig machen. Das durfte nicht sein, er durfte ihr zum Tod ihres Bruders nicht noch einen weiteren Anlaß zu Kummer und Gram geben. Dazu liebte er sie zu sehr.
    Er wußte nicht genau, wann er begonnen hatte, sie Mutter zu nennen. Wahrscheinlich bald nach dem Tod seines Vaters. An ihn erinnerte er sich genau, er war ja schon fünf Jahre alt gewesen, als er starb. Oder sechs? Jedenfalls lebte in seinem Kopf immer noch das Bild eines großen Mannes mit breiten Schultern, dickem hellblondem Haar und Händen voller Farbreste. An das Gesicht erinnerte er sich kaum, aber im Salon zu Hause in Husum hing über der Kommode sein Selbstporträt. Das hatte die Lücke in Simons Erinnerung gefüllt.
    Auf dem Bild sah er sehr jung aus, stolz und froh. Obwohl er sich natürlich bemüht hatte, auch nachdenkliche Würde in sein Gesicht zu malen, wie es sich für das Porträt eines seriösen Künstlers gehörte. In Simons Gedanken war sein Vater jedoch stets ernst und verschlossen. Das stimme schon, hatte seine Tante ihm irgendwann erklärt, als er das Bild gemalt habe, sei er ein fröhlicher junger Mann mit den besten Aussichten gewesen, und gerade erst ein halbes Jahr verheiratet. Sie hatte ihr Taschentuch aus dem Ärmel gezogen und sich die Augen getupft. Er habe damals auch ein Bild seiner jungen Frau gemalt, Simons Mutter, aber nachdem er nach ihrem Tod mit dem erst wenige Monate alten Simon nach Husum zurückgekehrt war, nie erlaubt, es aufzuhängen. Nein, sie wisse nicht, wo es sei, es sei verschwunden. Auch dieses Bild seines Vaters habe jahrelang in seiner Reisekiste gelegen, sie habe es erst aufgehängt, nachdem er … Da hatte sie sich energisch die Nase geputzt, den nur vermeintlich schiefhängenden Rahmen zärtlich geradegerückt und gesagt: »Behalte ihn in Erinnerung, wie du ihn hier siehst, Simon. Genau so war er, heiter und voller Kraft, und so wäre er auch geblieben, wenn er deine Mutter nicht so früh verloren hätte. Er hat sie über alles geliebt. So wie auch dich«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu. »Er hat auch oft gesagt, du sehest ihr außerordentlich ähnlich.« Aber es war zu spät gewesen.
    Wenn Peter Donner seinen einzigen Sohn tatsächlich geliebt hatte, so vermochte er kaum, es ihm zu zeigen. Simon lernte schnell, daß Fragen ihn nur störten, bei der Arbeit, wie er immer sagte, und tatsächlich stand er alle Tage in seinem kleinen Atelier, einem niedrigen, dennoch hellen Zimmer im ersten Geschoß über der Horstedtschen Apotheke am Husumer Markt, die seinem Schwager gehörte. Doch manchmal, das waren die Festtage für Simon, gab ihm sein Vater Papier und Pinsel, schabte ihm ein paar Farben auf eine alte Palette und ermunterte ihn zu malen. An solchen Tagen vergaß er auch nie, seinen Sohn zu loben. Er warf die bunten ungelenken Bilder des Kindes niemals ins Feuer, so wie er es oft mit seinen eigenen Skizzen tat, sondern legte sie zum Trocknen aus und später in eine Mappe, die er auf seinem Schrank verwahrte.
    Von seiner leiblichen Mutter wußte Simon nicht viel, nur, daß sie aus einer guten, aber unvermögenden Familie stammte. Was ihn erstaunte, denn das einzige, was sie ihm vererbt hatte, schien ihm sehr wertvoll. Diese Uhr, die nun, nachdem Meister Godard sie repariert, auch den fehlenden Griff und die abgesprungene Holzleiste an der oberen Konsole ersetzt und das schimmernde dunkle Holz frisch gewachst hatte, wieder leise tickend auf seinem Tisch stand. Meister Godard hatte ihm prächtigere und modernere Uhren gezeigt, aber keine erschien Simon schöner als diese. Er mochte das Holz, Wurzelnußfurnier, hatte der Meister ihm erklärt, und er mochte das schlichte Zifferblatt, das auf weißer Emaille nur einen Kranz schwarzer römischer Zahlen zeigte. Vier vergoldete Putten, Lockenköpfe über ausgebreiteten Flügeln, füllten die Ecken zwischen den Rundungen und dem Türgehäuse. Die Uhr schlug alle

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