Die zerbrochene Uhr
Es erscheint dir vielleicht unwichtig, aber für mich ist es wichtig. Ich wäre dir wirklich dankbar.«
»Wie er war?« Simon konnte sich in der Tat nicht vorstellen, was daran für den Rektor noch von Wichtigkeit sein sollte. »Mein Onkel war, wie er hier auch war. Aber eigentlich«, er rutschte ein winziges Stück auf seinem Stuhl zurück, so daß er beinahe bequem saß, »eigentlich war er die meiste Zeit nicht mehr in Husum, als ich dort war. Zuerst war er auf dem Christianeum in Altona, dann auf der Universität, in Helmstedt und danach in Halle, und bevor er hierher kam, war er Lehrer an der Uelzener Lateinschule. Das alles wißt Ihr ja.«
Müller nickte. Ja, das wußte er. Er suchte nach Worten, stand schließlich abrupt auf und begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zuwandern, zwei Schritte hin, drei Schritte her. »Ich will offen mit dir reden, Simon. Ich weiß ja, daß er dich nicht sehr gut behandelt hat, und ich bedauere zutiefst, daß ich das so lange falsch verstanden und deshalb zugelassen habe. Wenn er auch nur selten bei euch in Husum war, wie war er dann? War er freundlich zu dir? Du bist schließlich der einzige Sohn seines Bruders. Auch sein einziger Neffe, ich glaube, seine Schwester, Madame Horstedt, hat keine eigenen Kinder?«
Simon fühlte sich plötzlich sehr müde. Er fand keine Kraft für höfliche Sätze. Niemals hatte er gewagt, sich über die bitteren Sticheleien seines Onkels zu beschweren, zu sagen: Nein, das stimmt nicht«, wenn der behauptete, Simon sei es gewesen, der die Bienenkörbe auf der hinteren Wiese umgestoßen habe. Wenn er log, Simon habe am Abend versäumt, den Hühnerstall zu verschließen, wie es seine Pflicht war, so daß am nächsten Morgen die Kräuterbeete der Apotheke aufgekratzt und zerwühlt waren. Oder wenn er flüsterte, der Sohn eines Malers könne eben nicht rechnen, habe nur Flausen im Kopf, und die meisten Malerkinder würden im Irrenhaus enden, das sei ganz klar, schlechte Träume seien nur der Anfang. Nein, er hatte nicht zu protestieren gewagt. Er wollte nicht noch mehr neuen Kummer bereiten, sondern ein braves Kind sein. Er wollte seiner Mutter ihre Liebe danken.
Nun endlich sprach Simon, nun rannen die Worte aus ihm heraus, leise und heftig, und er dachte nicht daran, ob man ihm glauben würde, ob man sagen würde, das bilde er sich nur ein, und lügen helfe nicht, wenn man etwas falsch gemacht habe, da helfe nur ein Bekenntnis der Schuld und tätige Reue. Er sprach ohne Pause, und mit jedem Satz wurde seine Stimme klarer.
»So etwas habe ich mir gedacht«, murmelte der alte Lehrer, als Simon schließlich schwieg. »Und hier hat er das mit anderen Mitteln fortgesetzt. Der dumme Kerl war eifersüchtig.«
Das verstand Simon nicht.
»Wenn ich es recht bedenke«, fuhr Müller fort, »kann es nicht nur das gewesen sein. Ich fürchte, er war auch nicht für unseren Beruf geeignet, das hätte ich merken müssen, bevor ich ihn dem Scholarchat empfahl. Aber er hatte eine so exzellente Empfehlung aus Uelzen. Nun ja«, er kratzte sich ungehalten an der Stirn, »vielleicht aus gutem Grund. Es ist kein vornehmer, dafür ein sicherer Weg, einen«, er hüstelte, »nun, einen unliebsamen Kollegen, dem man keine fachlichen Fehler oder Versäumnisse nachweisen kann, loszuwerden. Sicher ein besserer Weg als der, den bei uns jemand gewählt hat. Du meine Güte«, erschrocken blickte er Simon an, »ich wollte damit nicht sagen, daß einer meiner Kollegen sich so versündigt hat. Das glaube ich ganz gewiß nicht.«
Simon nickte. Ihm war schwindelig, und er wünschte, der Rektor würde nun gehen. Was hatte er da nur alles erzählt? Und warum? Warum?
»Monsieur Müller? Ich habe eine Bitte.«
»Sprich nur, was immer ich erfüllen kann, will ich tun.«
»Es ist nur, wenn Ihr, bitte, meiner Mutter nichts von dem sagen würdet, was ich Euch gerade erzählt habe. Ich möchte nicht, daß sie noch mehr Kummer hat.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, und Johann Samuel Müller war plötzlich intensiv damit beschäftigt, aus dem Fenster auf das nachtschwarze Fleet hinunterzusehen und eine neue Kerze in den Halter zu stecken, obwohl von der alten noch ein gutes Viertel übrig war.
»Natürlich, Simon, ich sehe keinen Grund, ihr irgend etwas davon zu erzählen. Auch sonst niemandem.« Er hörte, wie Simon sich die Nase putzte, und wandte sich wieder zu ihm um. »Das bleibt unter uns. Allerdings habe ich eine Bedingung. Sieh mich nicht so erschrocken an. Du sollst
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