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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Stunde. Ein gutes Schlagwerk, hatte der Uhrmacher gelobt. Joseph Knibb habe sich darauf besonders gut verstanden. Das war der in die Platine, die schwere messingne Platte eingeritzte Name, auf der das Wunderwerk aus Rädchen, Federn, Stäbchen und Scheiben montiert war.
    Seine Tante – seit sie und ihr Mann ihn an Kindes statt angenommen hatten, seine Mutter –, hatte wochenlang an einem quälenden Fieber gelitten, nachdem sein Vater nach der Insel Amrum übergesetzt hatte und dort nie angekommen war. Es war ein Tag mit böig auffrischenden Winden gewesen, das wohl, doch der Schiffer war ein erfahrener Fährmann, und der Inselvogt, den er mitsamt seiner Gattin und den vier Kindern malen sollte, hatte auf einem umgehenden Beginn der Arbeit bestanden. Also hatten sie losgemacht und waren aus dem schützenden Hafen hinaus auf die See gesegelt. Das Wrack des Ewers wurde im Watt gefunden, und den ertrunkenen Fährmann spülten viele Tage später die Herbststürme an den Amrumer Strand. Sein Kopf war zerschmettert, und die Leute sagten, der brechende Mast müsse ihn getroffen haben, oder irgendeine Planke, als der Ewer im Sturm kenterte. Simons Vater, der Maler Peter Donner, wurde nie gefunden. Und immer noch, wenn auch sehr viel seltener als in den ersten Jahren, träumte Simon von ihm. Er träumte, wie sein Vater nach ihm rief, wie er in tiefschwarzer Nacht auf einer Sandbank stand, die herannahende eisige Flut schon tobte und brüllte, immer näher kam, näher – dann wachte er auf, manchmal mit einem Schrei, manchmal nur zitternd vor schwarzer Angst. Er hatte nie jemandem von diesen Träumen erzählt. Er wollte nicht hören, daß sie sagten: Es ist ja nur ein Traum, er ist jetzt bei Gott, und alles ist gut.
    »Simon?« Die Stimme klang gedämpft durch seine Tür, es klopfte, und erst jetzt fiel ihm auf, daß es schon zuvor zweimal geklopft hatte. Er hatte es gehört und doch nicht gehört. Hastig wischte er sich über die Augen, da öffnete sich auch schon die Tür, und Rektor Müller trat ein.
    »Ich will nicht stören, mein Junge, aber ich sah unter der Türspalte, daß deine Kerze noch brennt. Kannst du nicht schlafen? Es ist schon spät. Aber nicht doch, bleib sitzen.«
    Simon, der sich beim Eintreten des Rektors erhoben hatte, rutschte auf die vordere Kante seines Stuhles.
    »Ich habe nicht gemerkt, daß es schon so spät ist«, sagte er, »ich bin noch nicht müde.«
    »Ja«, der Rektor nickte, »gewiß schläfst du nicht besonders gut in diesen Tagen. Es tut mir so leid, ich würde dir gerne helfen, aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht so recht, was zu tun ist. Wenn du mit mir reden möchtest …«
    Er verstummte. Das Gesicht des Jungen mit den roten müden Augen und den geschlossenen Lippen zeigte deutlich, daß er mit niemandem reden wollte. Was Johann Samuel Müller nicht für gut hielt. Er hielt es überhaupt nicht für gut, wenn ein Mann immer alles mit sich allein ausmachte. Das war zwar so üblich, aber, davon war er überzeugt, nicht gut, wirklich nicht gut. Besonders wenn der Mann noch ein Junge war.
    »Du schreibst einen Brief?« sagte er in das Schweigen, um irgend etwas zu sagen. »Nach Husum?« Als Simon zögernd nickte, fuhr er, ohne die Fetzen auf dem Boden eines Blickes zu würdigen, fort: »Das ist gut, sehr gut. Aber laß dir nur Zeit. Ich habe schon an Monsieur und Madame Horstedt geschrieben, gleich am Freitag morgen. Der Brief hat noch die Dänisch königliche Post erreicht und ist schon mittags auf die Reise gegangen. Ich weiß leider nicht, wie lange der Bote bis Husum braucht, zwei Tage, denke ich, diese Reiter sind ja sehr schnell, manche reiten sogar nachts. Ich bin sicher, daß Monsieur Horstedt in der nächsten Woche hier eintreffen wird, vielleicht auch Madame Horstedt. Ja, bestimmt werden beide kommen.«
    Müller hörte sich zu und fand, daß er plappere. Er setzte sich auf den Hocker neben Simons Bett und faltete die Hände im Schoß. »Ich schlafe in diesen Tagen auch nicht besonders gut. Ich grübele ständig herum, das ist äußerst unangenehm, und es kommt auch nicht viel dabei heraus, fürchte ich. Vielleicht kannst du mir helfen, Simon? Du willst nichts Schlechtes über deinen Onkel sagen, das weiß ich, aber nun, da er tot ist, und auf so unappetitliche Weise« – er biß sich auf die Lippen, ein ganz falsches, äußerst pietätloses Wort –, »auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist, vielleicht könntest du mir erzählen, wie er war, bevor er an diese Schule kam.

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