Die zerbrochene Uhr
bleich und mit tränennassem Gesicht, goldene Sonnenflecken auf dem feldmausbraunen Haar, ein Bild des Jammers an einem lieblichen Sommernachmittag.
Dies war keine Gelegenheit, wegen eines herabgefallenen Stückchens Papier zu stören, sondern eine, sich auf leisen Sohlen davonzuschleichen. Mademoiselle Nieburg würde ihr nie verzeihen, wenn sie sie in einem solchen Moment der Verzagtheit ertappte.
»Mademoiselle Nieburg? Ich weiß, daß ich störe. Verzeiht, aber Ihr habt etwas verloren, und ich dachte, Ihr vermißt es vielleicht schon.«
Mademoiselle Nieburg sah Rosina an, als sähe sie sie nicht wirklich, die Lider ihrer hellen grauen Augen waren gerötet wie ihre kleine spitze Nase. Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und entdeckte den Brief. Rosina hatte ihn aus der Tasche gezogen, das Band war dabei herabgerutscht, und der Bogen öffnete sich.
»Der Brief«, Mademoiselle zitterte und begann fahrig die Taschen in ihrem Rock zu betasten, »der Brief. Du hast ihn gelesen, oh, das hättest du nicht tun sollen. Es ist mein Brief, niemand darf ihn lesen.« Ihre Schultern sanken plötzlich herab, als habe jemand alle Knochen herausgezogen.
»Nein, Mademoiselle«, log Rosina entschlossen, »ich habe ihn nicht gelesen. Ihr habt ihn in der Sänfte liegengelassen, ich will ihn Euch nur bringen.«
Ein neues Schluchzen schüttelte ihren kleinen Körper. »Ach«, schluchzte sie, »es ist ja doch alles zu spät.«
Natürlich ging es überhaupt nicht an, daß eine Dienerin, und sei es die der Domina, sich neben eine Konventualin setzte und ihr tröstend den Arm um die bebenden Schultern legte. Noch weniger ging es an, daß eine Konventualin sich in die tröstende Umarmung einer Dienerin, und sei es die der Domina, ergab und ihren Tränen freien Lauf ließ. Aber das kümmerte keine der beiden.
»Er hat es für mich getan«, schluchzte sie, »und ich habe es nicht verdient, ich habe überhaupt nichts verdient. Monsieur Donner war ein so schlechter Mensch, und ich bin so kleinherzig, ohne Mut und Kraft. Hätte ich doch nur ein Fünkchen seines Mutes! Nur für mich hat er es getan.«
Es war Mademoiselle Nieburg egal, wer da so schützend den Arm um sie legte, es war ihr egal, wer ihr zuhörte, wenn sie nur endlich ihre quälenden Gedanken aussprechen konnte. Rosina fühlte sich plötzlich sehr matt. Der Jammer rührte sie tief, und sie wünschte nichts, als still dazusitzen und allein durch ihre Gegenwart zu trösten. Aber sie mußte wissen, wer Melchior war.
8. KAPITEL
MONTAG, DEN 8. AUGUSTUS,
MITTAGS
Claes Herrmanns blieb abrupt mitten auf dem Platz vor der Börse stehen. »Was hast du gesagt, Bocholt? Wen hast du am Donnerstag aus dem Johanneum kommen sehen?«
»Da siehst du es wieder. Nie hörst du mir richtig zu, und ich muß immer noch mal von vorne erzählen.«
»Das ist Unsinn. Gerade jetzt habe ich ganz genau zugehört. Ich glaube nur, daß ich dich falsch verstanden habe. Vorsicht!«
Claes griff nach Bocholts Arm und zog ihn hastig zur Seite. Zwei Kutschen rollten eine nach der anderen haarscharf an ihnen vorbei. Die Kutscher kümmerten sich kaum um das Gedränge auf der Straße, die hier zum langgestreckten Platz erweitert mit Rathaus, Bank und Börse, Gericht, Commercium und Kran das Geschäftszentrum der Stadt bildete.
Bocholt zog ein Tuch aus seiner Rocktasche, tupfte sich die vor Schreck feuchte Stirn, scheuchte ein Bettelkind unwirsch davon und sah Claes vorwurfsvoll an. »Die Kerle hätten uns fast umgefahren. Wozu haben wir dich in die Commerzdeputation gewählt? Warum sorgst du nicht dafür, daß solche Verbrecher auf dem Kutschbock endlich aus der Stadt verschwinden?«
»Weil das nun wirklich nicht Sache der Commerzdeputation ist. Das ist Sache der – ach, Bocholt, das weiß ich jetzt nicht, irgendeine der vierunddreißig Deputationen wird schon zuständig sein, und ganz bestimmt die Wedde. Du kannst ja mal dem Weddesenator sagen, er solle sich darum kümmern, allerdings, wenn ich mich nicht sehr irre, saß van Witten selbst in einer dieser beiden Kutschen mit den Verbrechern auf dem Bock. Aber vergiß das jetzt mal. Du hast gesagt, daß du am letzten Donnerstag – richtig?«
Bocholt, immer noch ein bißchen beleidigt, nickte.
»… am letzten Donnerstag gesehen hast, wie der hugenottische Uhrmacher von der Großen Johannisstraße aus dem Johanneum kam.«
»Ja, das stimmt. Aber hör endlich auf, mit mir zu reden und mich anzustarren, als wärst du von der Inquisition. Ohne
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