Die zerbrochene Uhr
Schule weiden zu lassen? Töltjes Beteuerungen, weder seien es seine Gänse, noch würde er es je wagen, Gänse, wenn er denn welche hätte, in diesen Hof zu lassen, hörte Monsieur Bach nicht mehr. Er knallte die Tür zum Musikraum hinter sich zu und war verschwunden.
Gleich darauf erklang wieder der leiernde Gesang der Jungen: »Valet will ich dir geben, du arge falsche Welt, dein sündlich böses Leben, durchaus mir nicht gefällt.«
Der Pedell hatte Magda noch nie leiden können, ein Gefühl, das von der Gegenseite leidenschaftlich erwidert wurde, und machte nun seinerseits ein Geschrei im Klosterhof, dessen Inhalt allerdings nicht an die geschliffene Empörung des Kantors heranreichte. Kurz und gut: Die Gänse hatten überlebt, und die Feindschaft zwischen Magda und Töltjes war unauflöslicher denn je.
Das alles erfuhr Rosina nicht mehr, allerdings hätte es sie auch kaum so brennend interessiert, wie Mieke annahm. Jedenfalls noch nicht in diesem Moment. Sie stand in der Diele und lauschte in die bleierne sonntägliche Stille. Nichts war zu hören, nicht einmal eine knarrende Bohle oder ein klapperndes Fenster. Das ganze Kloster schien zu schlafen. Sie drehte den gefalteten und mit einer dünnen Schnur zusammengehaltenen Briefbogen in den Händen. Die Schnur war locker, sie mußte nur ein ganz kleines bißchen daran ziehen, schon fiel sie herab, und der steife Bogen öffnete sich. Ein wenig nur, aber genug, um die erste Zeile des Briefes zu zeigen und alle Scham über die eigene Neugier sofort zu vergessen.
Meine einzig geliebte Rose, stand da, und Rosina war sicher, daß damit Mademoiselle Nieburg, das nette Veilchen, gemeint war. Die nächsten Zeilen waren ein wenig von Tränenspuren verwischt, dennoch konnte Rosina das meiste entziffern. Nichts, beteuerte der Schreiber – sie zweifelte keinen Moment daran, daß dies der Brief eines Mannes war –, nichts werde seine Liebe ersticken. Was er getan habe, sei schändlich, gewiß kein Zeichen von männlicher Ehre und tief zu verachten. Sie erhebe ihn zu sehr, wenn sie es als ein Opfer bezeichne, es sei nichts als der Ausdruck seiner unverbrüchlichen Liebe und Treue gewesen. Er habe es tun müssen, um sie zu schützen. Sein Schicksal sei ihm nicht mehr wichtig. Nun, da sie glaube, sie habe ihn, habe sein ganzes Leben mit einer schweren Last beladen, bedaure er zutiefst, ihr diese seine Schwäche überhaupt anvertraut zu haben. Wenn sie ihm nun nie mehr zu begegnen wünsche, werde er alles versuchen, sein Herz zu bezähmen und ihre Entscheidung zu ertragen. »Auch wenn dann alles, was ich für uns tat, vergeblich war. Adam Donner war ein verworfener Mensch, wie könnte ich seinen Tod bedauern …«
Leichte Schritte kamen auf dem oberen Gang näher. Bevor sie die Treppe erreichten, faltete Rosina hastig den Bogen, wand die Schnur notdürftig darum, und gerade, als das Schreiben in ihrer Rocktasche verschwunden war, eilte Mademoiselle Meyerink die Treppe herab, heute in silbergrauer, mit weißen und gelben Streublumen übersäter Seide. Sie nickte dem neuen Mädchen der Domina einen flüchtigen Gruß zu und war schon durch die Diele hinaus in den Hof verschwunden. Mademoiselle Meyerink war eindeutig in Eile, allerdings sah sie heute nicht aus, als fliehe sie vor dem Gepolter des heiligen Dominicus. Ihr Gesicht leuchtete von freudigem Eifer, aus ihrem Haar rieselten überschüssige Reste frischen Puders – Mademoiselle Meyerink war unterwegs zu einer Einladung. Vielleicht in einen der Gärten oder zu einem Teenachmittag, auf alle Fälle zu einer anregenden Abwechslung von ihrem täglichen Konventualinnen-Einerlei.
Rosina widerstand der Versuchung, den Brief ganz zu lesen, sie warf nur noch einen Blick auf das Ende. Da stand etwas von Bitte um Verzeihung, so eine Liebe komme von Gott, die dürfe man nicht so einfach verwerfen. Und die Unterschrift: Dir ewig ergeben, Melchior. Leider einfach nur Melchior. Kein Familienname. Wer in drei Teufels Namen war Melchior? Und was hatte der getan, um seine Rose zu schützen? Wovor zu schützen? Wieder klapperten im Obergeschoß Schritte über den Flur, Rosina schob den Brief eilig in die Tasche zurück und machte sich auf die Suche nach seiner Besitzerin.
Sie fand Mademoiselle Nieburg schließlich in der kleinen Hainbuchenlaube am Rand des Gartens der Domina. Zuerst sah sie nur einen Schimmer der matten Seide des Kleides zwischen den Büschen, dann hörte sie leises Weinen und Seufzen, und da saß Mademoiselle Nieburg,
Weitere Kostenlose Bücher