Die zerbrochene Uhr
dem ersten Träger eine Münze in die Hand gedrückt hatte, eilig über den Hof schritt und in der Diele des Klosters verschwand. Eilig, als flüchte sie vor etwas oder vor jemandem. Rosina beugte sich vor und sah nach der Hofeinfahrt, aber dort war niemand, der sie verfolgen oder auch nur beobachten könnte. Natürlich nicht. Sie schalt sich töricht, vielleicht hatte Mademoiselle Nieburg Kopfschmerzen, oder jemand in ihrer Familie war krank. Es gab viele Gründe, zerstreut oder auch leidend auszusehen.
»… reich, sage ich dir«, schwätzte Mieke längst weiter. »Die Nieburgs haben Ländereien wie ein Herzog, drei eigene Schiffe und wer weiß wie viele Parten an anderen.«
»Warum ist sie dann hier? Warum lebt sie nicht in einem großen Haus und läßt sich bedienen?«
»Bedient wird sie hier auch, und ein großes Haus hat sie bestimmt nicht. Ihre Brüder haben das Geld, sie hat ihren Platz hier im Stift. So ist das, wenn man nicht als Mann geboren wird, und wenn einem keiner gut genug ist, bis einen keiner mehr will.« Mieke seufzte, und was nach verächtlichem Spott geklungen hatte, wurde durch ihre kummervolle Miene über alle Standesgrenzen hinaus zum Ausdruck weiblichen Mitgefühls. »Ich glaube nicht, daß es ihre Schuld ist. Ihre Brüder waren es, denen keiner gut genug schien. Die wollten einen Prinzen für ihre einzige Schwester, einen Grafen mindestens. Geld und Gold sackweise, und die Schwester an einen Adeligen verhökern, damit sie damit rumprotzen können.«
Mademoiselle Nieburg, fuhr sie fort und senkte wieder vertraulich die Stimme, lebe seit mehr als zehn Jahren im Johannisstift, was ja genau besehen fast so sei wie ein Kloster. Dennoch, Natur sei Natur. Am letzten Sonntag im Juli habe sie Mademoiselle mit einem der Lehrer im vertraulichen Gespräch gesehen, im Garten der Domina!, und zwar mit dem, der jetzt tot sei, mit diesem Donner, tatsächlich, sei das zu glauben? Noch dazu, wo der ein so unangenehmer Mensch gewesen sei?
»Ich sage immer, Jungfrauen im Stift hin oder her, kein Mensch ist heilig, solange er noch nicht tot ist. Ja, das sage ich immer, und Mademoiselle Nieburg, nun, sie ist vielleicht keine blühende Rose, aber doch ein nettes Veilchen, wenn auch nicht gerade mehr knospend, aber mit diesem niedlichen Silberblick, den Männer allerdings nicht so gerne haben, es heißt ja auch, ein Silberblick sei nicht von guten Geistern, ich finde aber …«
»Mademoiselle?« Einer der Träger sah suchend über den Hof und die Fensterreihe im ersten Geschoß. Er hatte sich in die Sänfte gebeugt, um das Kissen für den nächsten Kunden aufzuschütteln, und hielt nun einen gefalteten Bogen Papier in der Hand. Bevor er ein zweites Mal rufen konnte, stand Rosina schon vor ihm.
»Hat Mademoiselle Nieburg etwas verloren?« Sie bemühte sich, nicht allzu begehrlich auf den Brief zu starren. »Gib es mir, ich bringe es ihr gleich.« Was dem Träger nicht gefiel. Es dem Mädchen zu geben, hieß, sich mit einem Lächeln zufriedenzugeben, anstatt einer kleinen Münze für den zusätzlichen Dienst.
»Nun gib ihr schon den Fetzen«, brummte der andere, »wir müssen weiter.«
Schon hielt Rosina den Brief in der Hand. Sie bringe ihn schnell zu Mademoiselle Nieburg, rief sie Mieke zu, die stirnrunzelnd den unsonntäglichen Diensteifer des Mädchens beobachtete, sie sei gleich zurück.
Die Wäscherin wartete vergebens auf Rosinas Rückkehr. Dabei gab es noch eine Menge zu erzählen, aber wenn Rosa so dumm war, sich freiwillig Arbeit aufzubürden, behielt sie den zweiten Teil der Geschichte vom Streit zwischen Magda, der Köchin, und Töltjes, dem Pedell, eben für sich.
Es war dabei um die Gänse gegangen, Magdas Gänse, die sie hütete, als habe sie sie selbst geboren, auch wenn sie im Winter gnadenlos im Bratentopf endeten. Jedenfalls war es den Gänsen gelungen, bis heute wußte niemand wie, auf den Innenhof des Johanneums zu gelangen, was schon Skandal genug war. Weil sie den Rückweg nicht finden konnten, veranstalteten sie auch noch ein mordsmäßiges Geschrei, was besonders störend war, da Monsieur Bach gerade mit dem Chor für das Leichenbegräbnis eines besonders verdienstvollen Ratsherren probte. Der Kantor, sonst, wie man hörte, ein friedfertiger, geduldiger Mensch, rannte durch die Gänge und schrie fuchsteufelswild nach dem Pedell, der solle seine Gänse fortschaffen, oder es passiere ein Unglück, und was er, der Pedell, sich überhaupt einbilde, sein lärmendes Federvieh im Hof der
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