Die zerbrochene Uhr
nicht den halben Cicero abschreiben oder solch einen Unsinn. Ich möchte nur, daß du, wann immer dich etwas bedrückt, ab jetzt damit zu mir kommst. Oder wenn es dir lieber ist, auch zu einem der anderen Kollegen. Es ist nicht gut, allein auf seinen Sorgen herumzusitzen. Sie werden davon nicht kleiner, sondern immer schwerer. Glaube mir das, mein Junge. Ich will dir nicht damit kommen, daß ich älter und weiser bin als du, das ist auch gar nicht nötig. Ich denke, du kennst dich mit Sorgen selbst gut aus. Doch nun ist es wirklich Zeit, schlafen zu gehen.«
Als der Rektor leise die Tür hinter sich ins Schloß gezogen hatte, trat Simon ans Fenster. Der Platz und die Straße vor dem Gymnasium lagen dunkel und verlassen. Nicht einmal eine Katze schlich dort herum. Er sollte dem Rektor seine Sorgen anvertrauen? Was sollte er ihm sagen? Dort unten steht ein Schatten und beobachtet mich?
SONNTAG, DEN 7. AUGUSTUS,
NACHMITTAGS
Das Schwalbenpärchen, das den Sommer Jahr für Jahr in der Remise verbrachte, sauste nur wenige Handbreit über dem Boden durch den Klosterhof, stieg plötzlich steil auf und verschwand unter dem hölzernen Dach. Rosina sah ihm nach und seufzte leise. Die beiden hatten nun, da ihre Jungen flügge waren, den ganzen Tag nichts zu tun, als in der warmen Sommerluft zu tanzen und Mücken zu fangen.
»Ich hab’s schon heute morgen gemerkt«, sagte eine Stimme hinter ihr und schnaufte zufrieden, »es gibt Regen. Da kann Magda sagen, was sie will. Wenn die Schwalben zu Fuß gehen, gibt’s nun mal Regen.«
Rosina sah sich um und entdeckte auf der Bank unter einer der Linden die Wäscherin. Sonst war niemand da, nicht einmal die Gänse. Die durften sich heute am saftigen Gras der Wiese beim Garten der Domina gütlich tun.
»Ja«, Rosina lächelte Mieke freundlich zu, »der Flug der Schwalben ist die beste Voraussage.«
Dann setzte sie sich neben die Wäscherin, plauderte weiter über das Wetter, und es dauerte keine drei Minuten, bis Mieke die Hände mit ihrer Flickarbeit in den Schoß legte, die Stimme senkte und dem neuen Mädchen der Domina die frischesten Nachrichten anvertraute. Ein besonders befriedigendes Unternehmen, da für einen Neuankömmling auch die schon etwas altbackenen Nachrichten frisch waren.
Zunächst erfuhr Rosina, daß Malchow vor Höhergestellten ein Schleimer sei, der aber, wenn man nicht acht gebe, allen weiblichen Wesen an die Röcke gehe, die Köchin ein Dragoner und aufgeblasen, als sei sie persönlich die Domina, wobei die Ehrwürdige Jungfrau wahrhaft vornehm sei und niemals aufgeblasen. Ja, und ob sie schon von dem Streit zwischen Magda und dem Pedell gehört habe? Das sei ein großer Spaß gewesen, natürlich nicht für Magda und den Pedell, aber doch für alle anderen. Die Domina vielleicht ausgenommen, weil die Streit nie als Spaß verstehe, dazu sei sie eben zu vornehm, was das Leben auch nicht einfacher mache. Für die Ehrwürdige Jungfrau selbst wie für alle anderen in ihrer Umgebung.
»Mit dem Pedell? Was hat Magda mit dem zu tun? Schule und Kloster sind doch strikt getrennt.«
»Das schon, aber Töltjes findet immer einen Grund, Ärger zu machen. Neulich erst …«
Da stolperten zwei Sänftenträger in den Hof. Ihre naßgeschwitzten Rücken und hochroten Gesichter ließen auf einen außerordentlich gewichtigen Kunden schließen, doch als sie ihre Last abgesetzt hatten, stieg eine zierliche Dame aus. Ihr Gesicht war so bleich wie das der Männer rot, ihr feldmausbraunes, zwirnglattes Haar fest und ohne Eleganz um den Kopf geschlungen. Außer winzigen Ohrringen aus Granat und noch winzigeren Perlen trug sie keinen Schmuck, ihr Kleid aus braunrotem, mattgeblümten Damast war eindeutig zu weit und brauchte ein Bügeleisen.
»Das ist Mademoiselle Nieburg«, flüsterte Mieke. Eigentlich sei sie immer sehr nett gewesen, habe sogar das eine oder andere Mal mit ihr, der Wäscherin, einige Worte gewechselt, was nicht jede der Damen täte. In der letzten Zeit jedoch, wenn sie es recht bedenke, schon den ganzen Sommer, laufe sie herum wie eine Heilige kurz vor ihrem Martyrium. Natürlich nicht wirklich wie eine Heilige, aber doch irgendwie, jedenfalls war sie mit ihren Gedanken nur selten dort, wo sie sich gerade tatsächlich aufhielt. Dabei sei sie erst in der Mitte der Dreißiger, noch längst nicht alt genug, um an die Seligkeit im Jenseits zu denken.
»Im Jenseits?« Rosina hörte nicht richtig zu. Sie sah Mademoiselle Nieburg nach, die, nachdem sie
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