Die zerbrochene Uhr
mich hättest du damals den Cicero nie begriffen, und den …«
»Dafür bin ich dir auch nach dreißig Jahren immer noch dankbar, Bocholt. Ohne dich hätte ich es auch ganz gewiß nie weiter als bis zur Septima geschafft. Also der Uhrmacher. Du meinst Godard?«
»Godard? Heißt der so? Ich kann mir Namen schlecht merken, das weißt du doch. Ich meine den, der seine Werkstatt an der Ecke Berg und Große Johannisstraße hat. Da gibt es nur einen. Und jetzt laß uns endlich weitergehen, sonst rennt uns tatsächlich noch einer um.«
»Gleich, Bocholt.« Claes folgte ihm widerwillig einige Schritte zur Seite, so daß sie auch den Männern mit ihren Karren und den Sänftenträgern nicht mehr im Weg standen … »Also Godard. Gut. Am Donnerstag. Du hast eben auch gesagt, es sei gegen Mittag gewesen?«
»Halb zwölf, denke ich, oder ein bißchen später. Ich war um halb zwölf am Plan in der Segeltuchmacherei verabredet, ich weiß noch, ich war in Eile, eine Depesche aus Leipzig kam dazwischen, ganz eilig. Aber ich will jetzt endlich zu Jensen, laß uns dort weiterreden.«
»Da hören immer alle zu, und mir ist lieber, ich höre es erst einmal allein. Sei nett, Bocholt, und hilf mir. Nur noch eine Minute. Gegen halb zwölf, hast du gesagt. Wie sah er aus, ich meine, war er auch in Eile?«
»So genau habe ich natürlich nicht hingesehen, ich sehe den Leuten nicht nach. Für so was habe ich keine Zeit. Gerannt ist er jedenfalls nicht gerade. Er ist mir nur aufgefallen, weil er in der Mittagspause aus dem großen Portal kam, und um diese Zeit ist die Schule ja immer leer und geschlossen. Was macht der da? dachte ich. Was hat der Kerl im Johanneum zu schaffen? Dann sah ich es.«
»Was?«
»Wen? meinst du. Das habe ich doch vorhin als erstes erzählt, du hast mir also doch nicht zugehört.«
Claes seufzte tief. »Na gut, es stimmt, zu Anfang habe ich nicht richtig zugehört. Aber da hat mir Bauer gleichzeitig von seinem neuen Tabakgeschäft erzählt, und du sagst doch seit Jahren, ich soll mich um Tabak kümmern. Ich bitte dich trotzdem um Verzeihung, und nun sag es mir noch einmal. Bitte, Bocholt.«
Der zupfte sich ein Stäubchen von der Schulter, ließ den Blick über den Platz schweifen, beantwortete den Gruß eines vorbeieilenden Kontorboten mit einem gnädigen Nicken und sagte schließlich: »An einem der Fenster zum Plan stand dieser tote Lehrer, natürlich war er noch nicht tot, sonst hätte er ja nicht da stehen können.
Er machte ein Gesicht, als habe ihm gerade jemand mitgeteilt, daß er nach Archangelsk auswandern muß. Ich habe ja nichts gegen Archangelsk, verdammt kalt da oben, aber immer noch gute Geschäfte, wenn auch längst nicht mehr so gut wie vor Jahren. Aber Juchten …«
»Der Lehrer, Bocholt!« Claes’ Gesichtsfarbe tendierte bedrohlich nach Ziegelrot. »Er stand am Fenster, hast du gesagt, und er sah wütend aus.«
»Ja. Obwohl ich eher sagen würde: grimmig. Ich wäre ihm in diesem Moment aus dem Weg gegangen, wenn ich etwas mit ihm zu tun gehabt hätte, was ich natürlich nie hatte. Er stand da, und als der, wie hast du gesagt, heißt er?«
»Godard?«
»Godard, richtig. Jedenfalls, als der Uhrmacher in sein Blickfeld kam, riß er plötzlich das Fenster auf, was nicht leicht ist, diese Fenster haben schon früher geklemmt, und jetzt tun sie das bestimmt noch mehr, also, er riß es auf, und dann sah er mich.«
Bocholt sah triumphierend Claes an.
»Er sah dich. Gut. Und?«
»Er machte erst seinen Mund und dann das Fenster wieder zu, mit einem tüchtigen Knall. Ein Wunder, daß die Scheiben nicht rausgefallen sind. Ich bin sicher, der wollte dem Uhrmacher etwas zurufen, aber als er sah, daß ich ihn sah, hat er es sich anders überlegt. Das ist alles. Wenn du jetzt nicht mit ins Kaffeehaus kommst, gehe ich allein.«
Damit drehte er sich um und drängte sich mit raschen Schritten durch die Menge. Claes folgte ihm, aber er, den es sonst nach der Börsenzeit stets am schnellsten an einen der Tische in Jensens Kaffeehaus zog, hatte es heute nicht eilig. Godard war also nicht, wie er behauptet hatte, am Mittwoch, sondern am Donnerstag, dem Todestag des Lehrers, bei ihm im Johanneum gewesen. Und zwar in der Mittagszeit, um die Stunde, in der Donner ermordet worden war.
»Verdammt«, sagte er, blieb stehen – und sah genau in Wagners Gesicht.
Der errötete rief und verbeugte sich knapp. »Ich will Euch nicht in Euren Gedanken stören, Monsieur Herrmanns, wenn Ihr erlaubt, gehe ich gleich
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