Die zerbrochene Uhr
bis zum mittäglichen Geschrei anwachsende Chor der menschlichen Stimmen. Um sechs riefen die Glocken der Hauptkirchen zur Predigt und vermischten sich schon mit den ersten Tönen aus den Werkstätten: dem Sägen und Klopfen, dem Kreischen von Metall, den hell und dunkel tönenden Schlägen der Huf- und Kupferschmiede oder der Faßmacher, dem Ächzen des Krans am Hafen. Auch die schweren Kutschen mit ihren eisenbeschlagenen Rädern und quietschenden Federn holperten nun über die Straßen, von bellenden Hunden und Bettelkindern verfolgt, und das Klappern der Hufe, die Ausrufe der Wasserträger, Aalverkäufer, der Gemüse- und Blumenfrauen, all der Kleinhändler, die sich in den Straßen drängten, übertönten die Rufe der Ewerführer auf den Fleeten und der Männer an den Seilwinden der Speicher.
Doch jetzt war die Nacht noch ohne Töne, so wie sie ohne Farben war. Alles schien grau und mild. Rosina kannte Nächte voller Angst, Nächte, in denen die Gespenster aus den düstersten Ecken der Erinnerung und der Zukunft herankrochen und die Finsternis zum erstickenden Gefängnis machten. Aber diese Stunde war reiner Frieden, ihre Dunkelheit war die der Zuversicht auf das schon heraufziehende Licht und den neuen Tag.
Sie griff nach dem wollenen Schultertuch, schlang es um ihren Körper und stützte sich auf das schmale Fensterbrett. Sie war noch müde, aber die Stunde doch zu schön, zu kostbar, um sie zu verschlafen. Da sang auch schon die erste Amsel, leise zuerst, nur ein zartes Tschilpen, dann ein lauter jauchzender Triller, kurz, als erschreckte der Vogel sich vor seiner eigenen Freude, aber gleich antwortete ein zweiter, und kurz drauf sangen beide ein Duett. Irgendwo klappte ein Fenster zu, kurz und hart. Nicht jeder freute sich am Gesang vor seiner Kammer zu dieser frühen Stunde. Dann war es wieder still. Auch die Amseln schwiegen.
Sie war durstig, noch immer spürte sie die rauchige Luft des Bremer Schlüssels trocken in ihrer Kehle. Der Krug auf dem Waschtisch war leer, da blieb nichts, als in die Küche hinunterzusteigen. Sie öffnete die Tür und lauschte in den Gang hinaus. Sie glaubte ein entferntes Knarren zu hören, wie vorsichtige Schritte auf alten Dielen, und dachte an Mademoiselle Nieburg. Vielleicht konnte sie nicht schlafen und ging, in Gedanken an ihren Melchior, im Zimmer auf und ab. Leider war es Rosina in der Gartenlaube nicht gelungen, herauszubekommen, wer sich hinter dem Namen verbarg. Sie hatte überhaupt nichts herausbekommen. Kaum hatte Mademoiselle Nieburg ihr tränennasses Gesicht an Rosinas Schulter sinken lassen, hatte sie sich ihres Fauxpas besonnen, war hochgeschreckt und hatte Rosina geboten zu gehen. Sie würde also noch ein bißchen Mühe und Phantasie aufwenden müssen, um dieses Rätsel zu lösen.
Sie lauschte erneut. Kein Knarren mehr. Sicher ächzten hin und wieder die alten Balken des Hauses in der Kühle des Morgens. Alles lag noch in tiefem Schlaf.
Sie hörte das Geräusch auf den letzten Stufen, als der Geruch von Asche, fettigem Ruß und verglimmender Glut schon die Nähe der Küche verriet. Zuerst dachte sie, die Köchin oder das Aschenmädchen seien schon da und schürten das Feuer oder setzten die Morgengrütze auf. Aber dazu war es noch mindestens eine Stunde zu früh. Der Ton war dumpf gewesen, als falle etwas um. Sie verharrte auf den Stufen und lauschte mit angehaltenem Atem, die Kälte der Steine kroch ihre Beine hinauf, aber Rosina bewegte sich nicht. Da. Wieder ein Laut, diesmal klang es eher wie ein Schaben. Wie hatte Mademoiselle Meyerink gesagt, der heilige Dominicus suche Erlösung? Es war kaum anzunehmen, daß er dabei Körbe umstieß oder Säcke herumschob. Warum hatte sie nur keine Kerze mitgenommen? Hier unten war es stockfinster, und in den Gängen des Kellers würde es – aber da war sie schon im Holzraum der Küche, öffnete behutsam und nur einen Spaltbreit die Tür zum Kellergang und lauschte in die Finsternis.
Sie schob sich flink und geräuschlos in den Gang, die Luft schlug ihr kalt und klamm entgegen, der muffige Geruch von Rüben, Erde, Staub und jahrhundertealtem feuchtem Mauerwerk kitzelte in ihrer Nase. Nur nicht niesen, bitte, jetzt nicht niesen! Sie wollte ja nur sehen, wer oder was sich dort herumdrückte, aber auf gar keinen Fall gesehen oder gehört werden. Sie tastete sich, immer eine Hand an der Wand, den Gang entlang, dorthin, wo es immer noch raschelte. Und das? War das nicht ein verzagter Seufzer gewesen?
Der Gang weitete
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