Die zerbrochene Uhr
versprachen sie lukrative Einladungen an fürstliche Höfe, mit Vorliebe an möglichst weit entfernte. Wer auf solche Schwätzereien hereinfiel, saß kurz darauf mit leerer Kasse da. Manchmal auch ohne erste Ballerina oder jugendliche Liebhaberin, von denen man allerdings auch niemals hörte, daß sie später zum Stern eines Schloßtheaters aufgestiegen waren.
»Ach, mein lieber gutgläubiger Jean.« Helena küßte ihn tröstend auf die Wange. »Du bist doch sonst nie auf solche Schwadroneure hereingefallen. Warum glaubst du ausgerechnet diesem? Was hat er dir heimlich versprochen?«
»Ganz einfach: Ich glaube ihm, weil er nichts verlangt.
Er will kein Geld, um uns die Reisebilletts zu kaufen, nicht mal ein winziges Darlehen, um eine kurzfristige Notlage, wie es sonst immer heißt, zu überbrücken. Er erzählt auch nicht, daß er größere Summen erwarte und Briefe mit Siegeln und Säckchen voller Pretiosen für die Damen. Er sagt nur, und warum zum Teufel sollte das nicht stimmen, daß in Mannheim ein Nationaltheater eröffnet werden soll, ganz wie in Hamburg, nur mit sehr viel mehr Geld, und er mit den Vorbereitungen betraut ist. Warum soll ich nicht glauben, daß wir, wenn er uns empfiehlt, einen Vertrag mit den Mannheimer Entrepreneuren bekommen? Warum soll ich das nicht glauben?«
»Mannheim ist eine Residenzstadt, Jean. Warum sollte dort ein bürgerliches Theater eröffnet werden? Glaube lieber mir, der ist auch nichts als ein Schwätzer, und sucht nur eine Gelegenheit, Manon schöne Augen zu machen, nachdem es ihm bei Rosina ja nicht gelungen ist. Nein, keine Widerrede, und du, Manon«, sie blickte streng in das errötende Gesicht des Mädchens, »du bist dumm genug, all diese Salbaderei zu glauben. Ach«, sie seufzte, »das ist man wohl in deinem Alter.«
»In meinem Alter?« begehrte Manon auf. »Er ist …«
Jean legte ihr schnell die Hand auf den Mund. »Nicht so laut. Er ist gerade hereingekommen. Dort ist er, seht ihr? Mit einem sehr bedeutenden Herrn.«
Alle reckten die Hälse, und tatsächlich nahm Monsieur Mosbert, Reisender im Auftrag schwerreicher Entrepreneure, an einem der Tische nahe dem Erker Platz. Sein Begleiter war nicht zu erkennen, der zeigte nur seinen breiten Rücken, und für einen, wie Jean gesagt hatte, bedeutenden Herrn, war sein Rock aus ziemlich billigem Tuch.
»Mit einem sehr bedeutenden Herrn?« Jakobsen stellte den Krug auf den Tisch und sah abschätzend zu den beiden neuen Gästen hinüber. »Ich weiß nicht, wen du für bedeutend hältst, Jean. Der«, er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, »ist nicht viel mehr als ein Türschließer. Das ist Töltjes, der Pedell vom Johanneum. Keine Ahnung, warum der Mensch da ihm Branntwein spendiert.«
Jean wurde um einige Zoll kleiner, murmelte etwas von der kolossalen Bedeutung der süperben Theaterdarbietungen an den Lateinschulen, und Rosina reckte sich weiter vor, um die beiden Männer genauer zu sehen.
»Der Pedell vom Johanneum? Hast du gehört, worüber sie reden, Jakobsen?«
»Nicht viel. Über das Wetter, glaube ich, und über die Ungebärdigkeit der heutigen Jugend oder so etwas. Ich hab nicht hingehört. Das tue ich nie. Wie du ja weißt.«
Jakobsen, das wußte jeder, war die beste und zuverlässigste Nachrichtenbörse der Neustadt.
»Es ist doch ganz natürlich«, Jean hatte sich wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet, »Monsieur Mosbert tut hier seine Arbeit. Er sammelt Auskünfte, wo er kann. Gewiß ist Monsieur Töltjes ein fleißiger Besucher des hiesigen Nationaltheaters. Die Stimme des Volkes ist sehr wichtig für ein neues Unternehmen. Deshalb gehören solche Gespräche zu seinem Erwerb. Vielleicht will er auch nur nach Mannheim berichten, was sich hier Schreckliches zugetragen hat. Er ist sehr klug, wenn er auch Stoff für ein neu zu schreibendes Drama liefert. Das Leben ist die beste Grundlage für das Theater, und die dröhnenden Schläge des Schicksals in dieser Stadt – was gibt es da schon wieder zu lachen, Helena?«
»Was hier dröhnt, ist nur deine Stimme. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendein Theaterdirektor im Süden sich für einen toten Lehrer im Johanneum interessiert. Die werden dort selbst genug Verbrechen haben. Was denkst du darüber, Rosina?«
Rosina erschien dieses Treffen sehr seltsam. Andererseits, wer wußte schon, was diese Menschen interessierte? Für die düsteren Seiten des Lebens, die dröhnenden Schläge des Schicksals, wie Jean es so bühnenreif
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