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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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ausgedrückt hatte, gab es stets ein Publikum. Nicht nur auf der Bühne. Erst vor wenigen Tagen hatte der Hamburgische Correspondent von der Hinrichtung zweier Kohlenträger berichtet, die während der Unruhen im Londoner Hafen einen Mord begangen hatten. Wobei allerdings die eigentliche Nachricht war, daß beide Katholiken gewesen waren und sich noch unter dem Galgen geweigert hatten, mit einem anglikanischen Geistlichen zu beten, was als weiterer Beweis ihrer gottlosen Seelen gewertet wurde. So mochte ein Mord in Hamburg auch für die Leute in einer fernen Residenzstadt berichtenswert sein, selbst wenn er weder mit Aufruhr noch mit Gottlosigkeit in Verbindung stand.
    »Was du dazu denkst, Rosina?« Helena, der es heute besondere Freude machte, Jean zu ärgern, bestand auf einer Antwort.
    Rosina zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich langweilt er sich nur. Solange die Gesellschaft des Hamburger Nationaltheaters in Braunschweig gastiert, hat er hier wenig zu tun. Und sicher ist er wie alle anderen neugierig. Von den Lehrern wird keiner bereit sein, ihm zu berichten, von Weddemeistern und Scholarchen gar nicht erst zu reden, so hält er sich an den Pedell.«
    Doch nun, schloß sie und zwängte sich aus der Bank, müsse sie ganz schnell zurück ins Johannisstift. Die Domina werde schon argwöhnen, warum sie so lange ausbleibe. Nein, keine Notwendigkeit, sie zu begleiten. Es sei zwar dunkel, aber der Weg nicht weit und die Stadtwache patrouilliere beständig.
    Die Fuhlentwiete lag still und dunkel, und Rosina beeilte sich auf ihrem Weg durch die anderen, zumeist noch engeren Straßen, das Stift zu erreichen. Aus einigen geöffneten Fenstern klangen Stimmen, sie passierte ein oder zwei Gasthäuser und hörte das gedämpfte Gemurmel der Männer. Sonst war alles ruhig. Nur unten am Hafen, in den Kaschemmen und Absteigen, in den schmuddeligen Hinterzimmern für verbotene Spiele und Geschäfte, war jetzt noch Lärm.
    Die Stille der Straßen ließ ihre raschen Schritte laut werden, sie drängte wie ein geheimes Flüstern, wie fremde Augen in ihrem Rücken. Schließlich raffte Rosina ihre Röcke und lief. Erst als sie die Toreinfahrt zum Kloster erreichte, über den dunklen Hof gelaufen war und die große Tür zur Diele hinter sich ins Schloß zog, hörte sie nichts mehr als ihr heftig schlagendes Herz und das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf.
    Sie hoffte sehr, der Pedell habe sie nicht gesehen oder gar als das neue Mädchen der Ehrwürdigen Jungfrau Domina erkannt. Besonders nicht im vertraulichen Gespräch mit fahrenden Komödianten.

9. KAPITEL
    DIENSTAG, DEN 9. AUGUSTUS,
    MORGENS
     
    Sie wußte nicht, wovon sie erwacht war. Vielleicht hatte einer der Hunde in den engen Höfen der Schlachter beim Küterhaus gebellt, allesamt vierschrötige Kerle auf kurzen, kräftigen Beinen, vielleicht auch nur ein Käuzchen gerufen. Eine Nachtigall war es jedenfalls nicht gewesen. Dann würde ihr Herz kaum so erschreckt klopfen. Sie wußte auch nicht, wie spät es war. Bis auf das schläfrige Plätschern des Alsterfleets unter ihrem Fenster war noch alles still. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen, damit keine der alten Dielen knarrte, zum Fenster und schob den Leinenvorhang ein wenig zur Seite. Die Sonne ging um halb fünf auf, lange konnte es bis dahin nicht mehr sein, denn in die Schwärze der Nacht mischte sich schon der erste graue Schimmer. Sie öffnete das Fenster und hielt ihr heißes Gesicht in die kühle feuchte Luft, ein letzter Hauch der würzigen Süße von Nachtviolen und Seifenkraut, die erst in der Nacht ihren vollen Duft entfalten, wehte vom Garten der Domina herüber.
    Die Stille und die Reinheit dieser Stunde erschienen ihr unwirklich. Das Kloster stand ziemlich genau in der Mitte der Stadt, in der Mitte der Wohnungen und Arbeitsstätten von fast hunderttausend Menschen, und doch war kaum ein Laut zu hören, der daran erinnerte. Noch herrschte jene kurze, kaum eine oder zwei Stunden währende Stille, wenn auch die letzten Trunkenen und selbst die Schwerkranken endlich Schlaf gefunden hatten, kurzen Schlaf, bevor das Morgenlicht und die stetig anschwellende Melodie des beginnenden Tages sie wieder weckten: Zuerst klappten einige Türen, klangen vereinzelte Schritte hohl in den Gassen, dann mischte sich das Rollen der Räder von Karren hinein, unterwegs zu Märkten, Anlegern, Werkstätten. Das angstvolle Blöken der Tiere bei den Schlachthäusern, krähende Hähne und der vom frühen Gemurmel

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