Die zerbrochene Uhr
Neben ihr saß Jean, mit Titus in eine heftige Debatte vertieft. Muto hockte zwischen ihnen und ließ sich davon nicht stören. Er kratzte mit einem viel zu großen Löffel die letzten Fleischbrocken von seinem Teller, und Manon, heute ganz würdevolle junge Dame, saß auf der Bank ihm gegenüber, sah ihm mit leicht heruntergezogenen Mundwinkeln zu und knabberte zierlich an einem Stück Brot. Ihre Eltern waren nicht zu sehen, gewiß saß Gesine bei einer Kerze in ihrer Kammer im Haus der Krögerin und stichelte an den Kostümen, und Rudolf grübelte bei einer zweiten über den Skizzen für seine neuen Kulissen. Auch Filippo fehlte, der neue Komödiant. Er war zwar nicht annähernd ein so guter Akrobat wie Sebastian, aber dafür ein sehr viel besserer Sänger und Akteur. Sebastian, einst Student in Halle und bis zum Frühjahr der beste Akrobat der Gesellschaft, hatte die Beckerschen verlassen, um in ein bürgerliches Leben zurückzukehren. Er begleitete nun einen Lübecker Kaufmannssohn auf dessen Bildungsreise nach Italien. Fritz und Manon beneideten ihn glühend, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Muto war überzeugt, ihm das Fortgehen nie verzeihen zu können, und Jean hatte gesagt, wenn er das Domestikendasein, denn nichts anderes bedeute diese Entscheidung, dem freien Leben vorziehe, so sei das seine Sache.
Ganz im Gegensatz zu Sebastian gelang es Filippo nur selten, seine Lieblingsrolle auf der Bühne zurückzulassen. Die großen Gesten, der kokette Charme und das süßliche Geschwätz des jugendlichen Helden und Liebhabers hätten im Bremer Schlüssel allerdings kaum Eindruck gemacht. Rosina war nicht sicher, ob er lange bei den Beckerschen Komödianten bleiben würde. Er war Jean einfach zu ähnlich, der würde eine solche Konkurrenz kaum lange neben sich dulden. Zumal, wenn sie zwei Jahrzehnte jünger war und bei den meisten Damen entsprechend größeren Eindruck machte.
Rosina winkte Jakobsen zu, der sich gerade, drei Krüge mit Branntwein in den Händen, zwischen den Bankreihen hindurchdrängte, setzte sich neben Helena und ließ sich zur Begrüßung umarmen.
»Trink das aus«, sagte Helena und drückte ihr ein mit weißem Wein gefülltes Glas in die Hand, »jeder kann sehen, daß du erst mal einen ordentlichen Schluck brauchst. Und dann erzähl. Wie ist es bei den Damen im Stift? Sind sie sehr vornehm? Und hast du schon etwas herausbekommen?«
»Danke, Helena«, Rosina trank durstig, »aber könntest du bitte etwas leiser sprechen? Sonst kannst du gleich einen Anschlag an der Börse machen.« Sie sah sich um, doch niemand an den Nachbartischen beachtete sie. »Ich habe nur wenige Minuten Zeit. Die Domina hatte einen Brief zu besorgen, die Adresse ist ganz nah dem Dragonerstall, und als ich euch dort nicht mehr traf, dachte ich mir, daß ihr vielleicht hier wärt.« Sie begrüßte Titus, Jean und Manon, strubbelte Muto durchs Haar, brach sich ein Stück von dem dunklen Roggenbrot, das auf dem Tisch lag, und biß hungrig hinein. »Nein, ich habe nichts herausgefunden«, fuhr sie leiser fort. Alle – selbst Manon vergaß ihre herablassende Haltung – neigten sich ihr mit gespitzten Ohren zu. »Höchstens, daß ich nie mein Brot als Magd oder Zofe verdienen möchte.«
»Das habe ich dir gleich gesagt«, rief Jean, bei dem Ermahnungen, leise zu sprechen, grundsätzlich nichts nützten. »Ich habe dir die Erlaubnis für diese Eskapade nur gegeben, damit du endlich merkst, wo es dir gutgeht.«
»Jean, sei still.« Helena boxte ihn lachend in die Seite. »Die Erlaubnis hat sie von uns allen bekommen, und du hast noch nie etwas dagegen gehabt, wenn Rosina … na ja, du weißt schon was.«
Titus grinste, prostete Rosina und Helena zu, schlug Jean auf die Schulter und brummte, so wie er es meistens tat, wenn er eigentlich lieber laut gelacht hätte: »Gib’s auf, Prinzipal, unsere Damen machen doch immer, was sie wollen.« Er winkte Jakobsen um einen neuen Krug Wein.
»Na gut«, Jean polierte beiläufig den etwas zu großen und zu bunten Stein seines Ringes am Rockrevers, »aber ihr werdet sehen, bald ist das alles vorbei. Wenn wir erst auf der Bühne des neuen Theaters zu Mannheim …«
Alle lachten. Nur Muto und Manon nicht – der Junge, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war und nicht zugehört hatte, und Manon, weil sie keinen Anlaß zu solcher Heiterkeit sah.
Immer wieder tauchten bei den Wanderkomödianten Männer auf, die ihnen die schönsten Zukunftsbilder malten. Gewöhnlich
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