Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
verurteilen, ehe sie uns nicht ihre Geschichte erzählt haben. Benutz gefälligst deinen Grips und versetz dich in die Lage des Hüters. Hätte er eben nicht zurückgesteckt, wären seine Männer alle tot. Qoqh hätte mit Vergnügen fünf Dutzend Herzen zerquetscht.« Gabbar blickte über die Schulter zu den beiden Tempelwächtern. »Der Lagerkommandant ist kein so mächtiger Manipulator wie der General, aber dafür hätte es gereicht.«
Einige Insassen des Langhauses nickten oder murmelten zustimmend. Norgas’ Protest ging in einem unverständlichen Nörgeln unter.
Unterdessen hatten die drei das besagte Stockbett erreicht. Unten lag ein hagerer, etwa fünfzigjähriger Mann. Gabbar wedelte mit der Hand in seine Richtung. »Das ist Veridas von Luxania, ein zäher Knochen. Er ist fast so lange hier wie ich. Die Lager über ihm sind in der letzten Woche frei geworden.«
»Du meinst, ihre Besitzer sind tot«, sagte Marnas.
Der Sprecher des Langhauses nickte.
Veridas schwang die Beine aus dem Bett. Er war eine asketische Erscheinung: schmales Gesicht, messerscharfe krumme Nase, spitzes Kinn, schulterlanges, dünnes, schneeweißes Haar und schütterer Vollbart. Um den Hals trug er ein Lederband mit einem Anhänger, der einem sich nach unten verjüngenden, kantigen, schwarzen Feuerstein glich. Seine grauen Augen schienen sofort die Tiefen von Taramis’ Seele auszuloten.
»Seid Ihr ein Seher, Veridas?«, fragte der unbehaglich.
»Ja. Ich sehe, dass du gleich aus den Latschen kippst.« Veridas deutete einladend auf die Bettstatt. Sie bestand aus einem Netz eiserner Blattfedern. Eine Decke gab es nicht.
Taramis ließ sich dankbar darauf nieder. »Habt Ihr Shúria gekannt, die Tochter des Hohepriesters?«
»Sie war meine Schülerin, bis die Fischköpfe mich entführten.«
»Tatsächlich!«
»Ja. Damals war sie vierzehn. Sie hat mir von dir und ihrer großen Schwester Xydia erzählt. Shúria sagte, sie freue sich, dass ihr zwei euch liebt. Das Mädchen schwärmte so glühend von dir, als sei es selbst in dich verschossen.«
»Davon weiß ich nichts«, murmelte Taramis. Ein Zittern schüttelte seinen Körper. Würde er je den Namen seiner verlorenen Liebe hören oder gar aussprechen können, ohne diesen überwältigenden Schmerz zu fühlen? Er zwang die Gedanken in eine andere Richtung. »Ist es Euch zuzuschreiben, dass Gabbar wie selbstverständlich von der dagonisischen Plage spricht?«
»Willst du mich verhören oder dich ausruhen?«
Taramis senkte den Blick. Verstohlen formte er mit der Linken den Winkel. »Entschuldigt, weiser Mann. Mögen deine Tage ohne Nebel sein.«
»Und die deinen voller Sonnenschein«, kam umgehend die Erwiderung.
»Veridas gehört wie ich zum Rat der Nebelwächter«, raunte Marnas, zu leise für die Männer, die sie neugierig beobachteten.
Der Seher deutete einladend auf die unteren Schlafstellen. »Jetzt ruht euch erst einmal aus. Als Krankenlager eignet sich das erste Bett am besten. Du kannst das darüber haben, Marnas. Ich ziehe nach oben, wenn’s recht ist.«
Taramis bedankte sich und ließ sich auf die federnde Unterlage sinken.
»Die Bettruhe beginnt zwei Stunden nach Verblassen der Sonne«, erklärte Gabbar. »Wer danach einem Wärter in die Arme läuft, macht Bekanntschaft mit der Siebenschwänzigen Katze. Im Wiederholungsfall wird er in die Grube geworfen, wo er sich entweder den Hals bricht oder den Hunger der Nager stillt.«
»Hat Reghosch diesen Ort gemeint, als er von dem ruhigen Plätzchen für ermattete Sklaven sprach?«
»Ja. Die Grube ist ein zweihundert Fuß tiefes Loch. Als ich vor zwei Jahren mit den ersten Arbeitssklaven aus Paresia hierher verschleppt wurde, haben wir dort im Tagebau zu schürfen begonnen. Die Ader war bald erschöpft. Deshalb ließen uns die Fischköpfe unweit davon Stollen in die Berge treiben. Seitdem wird die Grube als Friedhof genutzt. Mancher, der aus der Reihe tanzte, ist bei lebendigem Leib hineingeworfen worden.«
»Wie viele von denen, die mit dir hierherkamen, sind umgekommen?«
»Alle außer mir. Es war hart, die Stammesbrüder sterben zu sehen, freie Jäger, die am Sklavendasein zerbrochen sind. Mich haben der Glaube und die Hoffnung auf den Tag der Befreiung am Leben erhalten. Und das Studium der Fischköpfe. Ich kenne alle ihre Stärken und Schwächen.«
»Schwächen? Welche zum Beispiel?«
Gabbar zupfte sich am Bart. »Ich habe gesehen, wie ein dagonisischer Soldat nach einem Disziplinverstoß in die Arrestzellen
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