Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Dagonisier den Tempelwächtern die Fesseln ab. Deutlicher konnten sie ihnen kaum zeigen, für wie sicher sie ihr Lager hielten.
Die Karawane der Verdammten zog weiter. Zu beiden Seiten der Kolonne tauchten Langhäuser aus unbehauenen Felsbrocken auf. Die Unterkünfte der Gefangenen. Sonderlich solide sahen die mit flachen Spitzdächern gedeckten Gebäude nicht aus. Wahrscheinlich genügte ein Husten im Schlaf, um sie einstürzen zu lassen.
Der Zug marschierte unter einem zentralen Wachtturm entlang und kam auf einem großen rechteckigen Schotterplatz zum Stehen. Dort waren bereits etwa tausend Zeridianer angetreten, blau bestäubte Männer mit blank gescheuerten Blechnäpfen, die sie an Schnüren über ihren Tuniken trugen. Die Abendsonne zerrte ihre Schatten in die Länge. Auf einem flachen Podest standen drei Antische: links der Blasse, in der Mitte ein Gigant von zehn Fuß und rechts ein vergleichsweise kleiner, dafür aber umso massigerer Fischkopf mit Barteln so dick wie fette Raupen. Ersterer ließ die Ankömmlinge erneut durchzählen, ehe er seine Gefangenen an den Riesen übergab.
»Der Große ist Natsar«, flüsterte Taramis, nachdem die Neuankömmlinge vor den Lagerinsassen zwei weitere Reihen gebildet hatten; er und Marnas standen im zweiten Glied. Mit dem Kinn deutete er zu dem Riesen, der gerade ein türkisfarbenes Pulver vom Handrücken in die Nasenlöcher schnupfte.
Marnas nickte nur und bedeutete ihm zu schweigen.
»Arbeitssklaven«, begann der General seine Ansprache. Die wohltönende Stimme war unverkennbar. »Für euch ist heute ein Freudentag. Ihr bekommt Hilfe. Eure Heilige Insel ist gestern gefallen …« Er hielt inne, weil ein Raunen durch die Menge ging. Hier und da klatschten Peitschen auf Rücken. Schmerzensschreie erklangen. Natsar wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
»Nicht ganz fünf Dutzend eurer Krieger haben überlebt«, setzte er seinen Vortrag fort. »Sie werden euch beim Abbau des blauen Gesteins zur Hand gehen. Jedes Langhaus erhält ein paar Zugänge. Die Hausvorstände werden ihnen alles Nötige erklären. Morgen früh geht es in die Stollen und die Vorarbeiter weisen dort ihre neuen Männer ein. Prägt ihnen die Regeln ein! Ihr wisst, wie wichtig die erste Woche ist. Wäre doch schade, wenn eure Stammesbrüder sie nicht überlebten.«
»Wer sagt denn, dass wir das überhaupt wollen?«, rief eine vertraute Stimme nur wenige Schritte rechts von Taramis. Es war Pyron, ein zwanzigjähriger Hitzkopf aus Verdenia mit dem gedrungenen Körper einer Raubkatze und dem Organ eines Knaben im Stimmbruch. Als Feuerbändiger konnte er mittels Geisteskraft sowohl Flammen löschen als auch jedwedes Ding in Brand stecken. Und zeigte man ihm ein Häuflein Asche, dann erzählte es ihm seine Geschichte.
Natsar trat an den Rand des Podestes vor. Sein Blick wanderte durch die Reihen der Gefangenen. »Wer hat das gesagt?«
Niemand antwortete ihm.
Er deutete auf einen gedrungenen Krieger mit Kopfverband ganz vorne. Taramis erkannte in ihm das alte Raubein Landes, mit dem er schon manche Nachtwache geteilt hatte. »Du. Sag mir, wer da eben so vorlaut sein Maul aufgerissen hat.«
Der Recke schwieg.
»Ich dulde nicht, dass irgendjemand die Sklaven zum Aufruhr anstiftet. Also sprich, Tempelwächter!«
Landes spuckte verächtlich auf den Boden.
Im nächsten Moment keuchte er wie unter einem heftigen Schmerz. Sein Gesicht lief rot an, als stecke ihm eine Dattel im Hals. An seinen Schläfen traten die Adern hervor. Mit den gefesselten Händen hämmerte er sich gegen die Brust, aber was immer er damit bezwecken wollte, es fruchtete nicht. Er sank ächzend auf die Knie.
»Allmächtiger!«, zischte Marnas und ballte die Fäuste. Zum Entsetzen nicht nur seines Lieblingsschülers machte er einen Schritt auf Natsar zu und rief: »Wenn Ihr jemanden bestrafen wollt, dann nehmt mich! Es sind meine Männer, und es ist meine Verantwortung.«
»Schweigt, Kommandant, und tretet sofort zurück ins Glied, oder ich töte Euren ganzen Haufen!«, herrschte der General ihn an. Bei aller Unerbittlichkeit in der Sache hielt er sich im Gegensatz zu seinen Untergebenen an die Gepflogenheit, einen feindlichen Befehlshaber wie eine hochgestellte Persönlichkeit anzureden.
Taramis meinte zu hören, wie sein Lehrer mit den Zähnen knirschte, während er dem Befehl nachkam. Marnas plagten ohnehin Schuldgefühle wegen der vernichtenden Niederlage seiner Garde, er würde nicht leichtfertig weitere Menschenleben
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